Auch die Ruhrtriennale fiel im vorigen Jahr der Pandemie zum Opfer. Und wich – wie viele andere auch – mit vielen Retrospektiven ins Internet aus. Sie findet in diesem Jahr wieder statt. Diese besondere Kunstanstrengung ist ein kulturelles Erbstück von Gerard Mortier für eine Region, die ihre Stein gewordene Industrie-Geschichte für die Künste unter einer aller drei Jahre wechselnden Intendanz in die Gegenwart holt. Neben die Banalitäten des Alltags setzt. Und im besten Fall auf sie zurückwirkt.
Für die nächsten drei Jahre unter der Intendantin Barbara Frey. Die Schweizer Regisseurin hat selbst zum Auftakt ihres ersten Jahrgangs in der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck Edgar Ellen Poes „Untergang des Hauses Usher“ als Gruselgeschichte mit Musik beschworen. Und sich für ihre Protagonisten direkt die Industrie-Architektur anverwandelt.
Bewusst korrespondierend mit diesem Schauspiel-Entree startet die Musiktheaterschiene der Ruhrtriennale-Jahrgangs 2021 in der Bochumer Jahrhunderthalle mit „Bählamms Fest“. Die 105-minütige Oper von Olga Neuwirth wurde 1999 in Wien uraufgeführt. Das Libretto von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek beruht auf der Vorlage von Leonora Carrington (1917-2011), deren gemeinsame Jahre mit dem Surrealisten Max Ernst in ihrem Stück „Das Fest des Lamms“ (1940) ihre literarischen Spuren hinterlassen haben. Denn reichlich surreal geht es zu im und um das Haus der Familie Carnis.
Das irische Regieduo „Dead Centre“ (Ben Kidd und Bush Moukarzel) und Ausstatterin Nina Wetzel haben dafür eine karg (Lear-taugliche) Heidelandschaft in die Jahrhunderthalle gepflanzt. Das ist sehr atmosphärisch. Vorne ein Teich, mal mit, mal ohne Wasser – immer in einem Lichtschein. Weiter hinten, auf einer Drehscheibe, ein so schlichtes wie seltsames Haus. Wenn der Diener Robert mit der Zeitung nach einer penetrant summenden Fliege an die Scheibe schlägt, dann kippt die ganze Giebelwand ein erstes Mal noch vorn. Für den Blick hinter die Fassade. Den gibt es auch auf der Rückseite als Projektionen. Da sieht man den „richtigen“ Hund hinter dem von Graham F. Valentine (virutos gespielten und gejaulten) menschlichen Hund Henry. Oder umgekehrt. Und ein Schaf ohne Kopf. Das hatte man vorher schon blutend von innen an der Scheibe herunterrutschen sehen. Aber auch als irritierende Felder, die wie eine Störung auf einem Computerdisplay, als wie aus einer ganz anderen Zeit hereinflackern.
Es ist über die 13 Bilder mit gesprochenen und gesungenen Texten oder rein instrumentalen Zwischenspielen eine Reise in ein alptraumhaftes Zwischenreich. Mit Wolfs- und Hundegeheul und Nebelwallen. Mit tanzende Schafen, die wie kopflose Gespenster aussehen. Mit uniformierten Hundepolizisten, die sich sportlich auf allen Vieren bewegen. Und im Zentrum mit einer schrägen Jeder-gegen-jeden-Familie. Im Verlaufe des Abends verschwimmen immer mehr die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Lebenden und Toten und auch die zwischen Mensch und Tier.
Bei einer herrischen Schwiegermutter, die wie Hilary Summers mit Divenhabitus vom Rollstuhl aus regiert; einem versoffenen Ehemann, wie deren Sohn Philip (Dietrich Henschel) und dessen auftauchender Ex Frau Elizabeth (Gloria Rehm) muss die flippige Theodora (Katrien Baerts) ja geradezu gegen Ehemann und Schwiegermutter rebellieren, ins Kinderzimmer flüchten und sich in ein Liebesabenteuer mit dem Wolfsmenschen Jeremy (Andrew Watts) stürzen. Im Laufe des Abends verselbständigen sich aufsteigende Erinnerungen und Geister der Vergangenheit, Hetzjagden, Rituale aus dem Reich der Lämmer oder Engelserscheinung immer mehr zu eigenständigen Traumbildern, die über der Heide des Grauens schweben. Fallhöhe gibt es auch, doch nur, wenn Jung-Spiderman einen abgetrennten Schafskopf aus der Höhe der Halle abseilt.
Die durchaus mögliche szenische Schlachtplatte hinter der bürgerlichen Fassade bleibt hier aus. Abgetrennte Köpfe und das Blut, das den Teich rot färbt, sind immer noch ansehnlich und werden kaum jemandem den Schlaf rauben. Neben der Atmosphäre aus der Tiefe des Raumes, die gleichwohl wirkt, ist es die Musik Neuwirths, die den Abend trägt. Sie liegt bei Sylvain Cambreling und dem fabelhaften Ensemble Modern, samt allen Live-Electronic-Zugaben in den denkbar kompetentesten Händen. Neuwirth greift beherzt und mit Lust ins Klanguniversum, scheut sich vor keiner Zersplitterung oder zitierenden Anspielung, lässt es stöhnen, jaulen und ächzen, als würde die Jahrhunderthalle selbst abgelagerte Klangsedimente ihrer Vergangenheit absondern. Im Bündnis mit ihrer Librettistin blitzt dabei auch hin und wieder schwarzer Witz auf. Alles in allem – ein schaurig (vielleicht ein wenig zu) schöner Abend, der an diesen Ort und in unsere Zeit passt!