Als Hans Werner Henzes erste abendfüllende Oper „Boulevard Solitude“, die ins Heute transponierte Prévost-Romanze vom Studenten Armand, der an seiner Leidenschaft zu Manon zugrundegeht, vor 22 Jahren in Hannover uraufgeführt wurde, war Jean-Pierre Ponnelle als Bühnenbildner dabei. Seine Dekorationen von 1952, mit schlankem Linealstrich kubistisch gezogen und surrealistisch ausfransend, sind schon ein Stück Nachkriegsgeschichte des deutschen Theaters. Sie noch einmal als Bühnengegenwart zu beleben, mußte ein verführerischer, aber auch verführender Gedanke sein. Ponnelle, der nun als Bühnenbildner und Regisseur für die neue Einstudierung im Münchner Nationaltheater zeichnet, hat ihn nicht verfolgt.
Vor 50 Jahren – „Boulevard Solitude“ – Ponnelle inszenierte Henzes Oper
Seine Bilder von 1974 sehen anders aus, sind dinglicher, streben einer magisch-manieristischen Spiegelung der Wirklichkeit zu: Das Ballett hat Ponnelle aus dieser „Ballettoper“ entfernt und die Sänger dafür mit Puppen und derart präzise erstarrenden Statisten umgeben, daß man die einen von den anderen kaum unterscheiden kann, daß Bilder entstehen, die einem Film ähnlich sind, der plötzlich in einer Einstellung festfriert und dann wieder weiterrollt, Bis heute, so zeigt sich in München, behauptet sich Henzes Wagnis einer Manon Oper nach Massenet und Puccini in einer verwandelten Welt.
Ihr Reiz liegt vor allem in einer Musik, die den Tonfall, den der Text nur mühselig buchstabiert, soviel ungezwungener findet. Farbenreicheres hat Henze für die Bühne kaum je geschrieben. Das bestätigt die mit Hildegard Uhrmacher und Claes-Haakan Ahnsjö geradezu ideal besetzte Aufführung, weil mit Klaus Tennstedt ein Dirigent vor dem in der subtilen Färbung und Nüancierung des Klanges sich bewährenden Orchester steht, der das Idiom des jungen Henze genau trifft: Seine gläserne Transparenz, seine lyristisch sich ergießende Kantilene, seine pochende rhythmische Präsenz, seine dramatischen Aufwallungen. Schriebe Henze heute eine Manon, sie würde, wenn er sie überhaupt noch schriebe, gewißlich ganz anders ausschauen. Sein „Boulevard Solitude“ gestattet uns, was der Komponist sich und uns heute wohl versagen würde, einen privaten Traum von Liebe, Sehnsucht und Verlassenheit. Ihm zu folgen, berührt nach wie vor.
pd., Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 1, April/Mai 1974
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