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Vor 50 Jahren: Henzes Lied von der Erde – Erstaufführung der „Voices“ in Wiesbaden

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Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 4, August/September 1974
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Überraschend großen und einhelligen Erfolg fand in Wiesbaden die deutsche Erstaufführung von Hans Werner Henzes „Voices“. Die Uraufführung der „Voices“ hat Henze Anfang Januar in London dirigiert. Die „Stimmen“ sind ein erstaunliches Dokument der jüngsten Entwicklung des Komponisten, der damit einer Gattung Reverenz erwiesen hat, die romantischer Tradition entspricht: dem groß angelegten, abendfüllenden Liederzyklus, sogar für zwei Stimmen etwa nach dem Vorbild von Hugo Wolfs „Italienischem Liederbuch“ oder Mahlers „Lied von der Erde“. Ganz unerwartet kommt dies freilich nicht. 

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Denn schon seit seinen Anfängen hat Henze immer wieder Vokalmusik komponiert (unter anderem 1948 die „Whispers“, 1956 die „Fünf Neapolitanischen Lieder“), und bis heute hat er kontinuierlich daran festgehalten. In Henzes Entwicklung kann man, wenn auch nicht immer eindeutig, einen oppositionellen Zug beobachten. Richtete sich sein Beginn als atonaler und dodekaphonischer Affront noch gegen Tradition, so ließen ihn seine in der Folge immer deutlicher werdenden Traditions-Filtrate in der seriellen Hoch-Phase zum Renegaten werden, zumal er den Prinzipien einer gleichsam angewandten Musik (für Oper, Ballett, Film und Kantate) treu blieb. Henzes Wendung zum sozialistischen Engagement seit 1967 führte zur Abkehr vom erfolgsträchtigen Wohllaut.

Henze griff die Techniken der Avantgarde wieder auf, und sein Komponieren gewann an Aggressivität und Verbindlichkeit. Zugleich aber wandte er sich mehr und mehr vom Immanenz-Anspruch der Avantgarde ab. Henzes Streben nach einer politisch aktivierenden Musik ging in eins – und darin unterscheidet er sich grundsätzlich von der Entwicklung Hanns Eislers – mit progressiverer Materialbehandlung. Im selben Maße hat er aber auch die stilistische Hermetik früherer Jahre aufgegeben. Henzes Kompositionen seit 1968 zeichnen sich durch zunehmende Vielgestaltigkeit der eingesetzten kompositorischen Mittel und Techniken aus. Darin freilich dokumentiert sich der Einfluß Eislers: musikalische Material-Verarbeitung nicht als Selbstzweck im Sinne autonomer Kunst, sondern als Funktion politischer Zielsetzungen. Henzes Musik ist nicht mehr so exquisit farbig wie früher; wohl aber hat sie an Buntheit und gestischer Vielfalt der Erscheinungsformen gewonnen, Damit hebt sie sich auch ab von dem nach wie vor ungemein homogen anmutenden Personalstil Luigi Nonos. 

Frappierend an den „Voices“ ist die dialektisch-changierende Synthese von zyklischer Einheitlichkeit der Anlage und der Variabilität der kompositorischen Stilmittel, von artistischem Raffinement und politischem Appell. Der Zyklus besteht aus zweiundzwanzig Liedern für Tenor und Mezzo-Sopran (sogar einige Duette sind darunter) und ein in stets neuen Kombinationen verwendetes Kammerorchester. Der ästhetische und aufführungstechnische Anspruch des Werkes ist hoch. Doch hat Henze die Lieder auch ausdrücklich für Einzelaufführungen bestimmt, und sogar Veränderungen (sprich Vereinfachungen) des Instrumentariums hat er nicht ausgeschlossen. Auch hier zielt Henze bewußt auf Ambivalenz: der zyklisch-artifizielle Werk-Charakter bleibt insgesamt gewahrt – aber auch die Verwendbarkeit einzelner Stücke für eine durchaus antihermetische politische Praxis ist mit einkalkuliert. 

Die Texte erscheinen in vier Sprachen. Es handelt sich um Gedichte der italienischen Resistenza, der kubanischen Revolution, der farbigen amerikanischen Oppositionellen und der deutschen politischen Lyrik, die historisch besonders weit gefächert wirkt: Heine, Brecht. Erich Fried und Hans Magnus Enzensberger. Die Assoziation an Mahlers „Lied von der Erde“ stellt sich nicht von ungefähr ein und bezieht sich auch nicht nur auf die immanent kompositorische Sphäre. Denn der Großteil der Texte gilt den Unterdrückten und Opfern, den „Verdammten dieser Erde“ Frantz Fanons, auf den sich Henze bei seiner Wendung zur Politik berufen hat. 

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Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 4, August/September 1974

Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 4, August/September 1974

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In der Sprachbehandlung, dem manifestierten Gestus und der instrumentalen Konfiguration variieren Henzes Lieder beträchtlich voneinander. So arbeitet er im „Prison Song“ Ho Chi Minhs hauptsächlich mit Schlag-Geräusch-Effekten zur Verdeutlichung des Angekettetseins, während der Brecht-Song „Keiner oder alle“ unmißverständlich den Marsch-Stil der Eislerschen Kampflieder von 1930 aufgreift. „The Electric Cop“ („Der elektrische Bulle“) attackiert die Welt des amerikanischen Fernsehens auch mit den Mitteln der Collage: Baseball-Reportage und Sibelius’sche Streicher-Opulenz werden über Lautsprecher eingeblendet. Henze nützt nicht nur die hochspezialisierten Möglichkeiten des Avantgarde-Ensembles, sondern greift auch immer wieder auf die Sphäre unterprivilegierter Trivial-Musik zurück, zu der auch ein Archaismus wie die Maultrommel gehört.

Zwei der Resistenza-Gedichte verwenden das Instrumentarium einer gleichsam armen Musik: Okarina, Mundharmonika, Akkordeon und Gitarre. Auch der Duktus eines langsamen Walzers findet sich, und die Vertonung der beiden letzten Zeilen von Heines „Heimkehr“ ist in sanftem Volksliedton gehalten. Brechts „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking“ adaptiert den Gestus ruhig-freundlichen Dozierens, wie ihn Eisler in den „Teppichwebern von Kulan-Bulak“ geprägt hat, während Erich Frieds satirisch antiamerikanisches „Recht und Billig“ Paul Dessaus giftiger Fröhlichkeit nahesteht. Miguel Barnets „Patria“ und das amerikanische „Screams“ beschwören expressionistische Avantgarde-Explosionen. Auch längere Flächen aleatorischer Geräusch-Zerfaserungen finden sich immer wieder, und knappe und um so exaktere quasi-theatralische Einsprengsel tauchen ebenfalls auf. Am Schluß steht fast programmatisch-friedvoll gehalten Enzensbergers „Blumenfest“ als gepflegt lyrisches und wohllautend-tonales fin de-siècle-Duett. 

Henzes Raffinement der Detail-Konstruktion wie der perspektivischen Verschränkung ist immens. Die Frage nach der unmittelbaren politischen Effektivität dieses Liederkreises dürfte sich kaum eindeutig beantworten lassen. Aber einige Zweifel scheinen angebracht. Die Aufführung war vorzüglich. Henze, der längere Zeit nicht mehr dirigiert hat, leitete die „London Sinfonietta“ offenkundig souverän, und die Solisten Rose Taylor und Paul Sperry wurden ihren vielschichtigen Aufgaben imponierend gerecht. 

Gerhard R. Koch, Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 4, August/September 1974

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