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„Spätlese“ zu Bernd Alois Zimmermann. Foto: Andreas Hauff
„Spätlese“ zu Bernd Alois Zimmermann. Foto: Andreas Hauff
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Vorm Carillon und hinter verschlossenen Türen

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Das Festival Neue Musik Rockenhausen 2020 als „Special Edition“ im Lockdown
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Die Flaggen wehen, die Plakate hängen noch, doch an der Tür der Donnersberghalle hängt der Hinweis auf den November-Lockdown: Das zweite Festival Neue Musik 2020 im nordpfälzischen Rockenhausen ist als öffentliche Veranstaltung abgesagt.

Bis zuletzt hatte Lydia Thorn-Wickert, die künstlerische und organisatorische Leiterin, das Konzept an die strenger werdenden Auflagen angepasst. Schon im Frühjahr wurde der ambitionierte Plan fallen gelassen, mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz und dem Orchester des Pfalztheaters Kaiserslautern Karlheinz Stockhausens Monumentalkomposition „Gruppen“ aufzuführen. Doch mit dem japanischen Komponisten Toshio Hosokawa als Schirmherr und Composer-in-Residence, einem attraktiven Programm für kleinere Besetzungen und jungen rheinland-pfälzischen Künstlern blieb genügend Ausstrahlungspotenzial weit über das Nordpfälzer Bergland hinaus. Überhaupt darf man die Fortführung nach zwei Jahren schon als Erfolg werten. Immerhin wurde noch 2019 im Kulturausschuss der Stadt ernsthaft gefragt, wozu man Geld in eine Veranstaltung stecken solle, deren Publikum allenfalls zu einem Drittel aus Rockenhausen stamme. Am Ende erhöhte das Land Rheinland-Pfalz seine Zuwendung um 10.000 auf 25.000 Euro.

Eine Woche vor Beginn kam die 12. Corona-Bekämpfungsverordnung des Landes Rheinland-Pfalz: „Öffentliche und gewerbliche Kultureinrichtungen (…) sind geschlossen“, hieß es da lapidar, aber auch: „Der Probebetrieb von professionellen Kulturangeboten ist unter Beachtung der allgemeinen Schutzmaßnahmen zulässig.“ Lydia Thorn-Wickert fand zu einer Zwischenlösung und erklärte das Festival 2020 zur „Special Edition“: Künstlerinnen und Künstler konnten zu Proben und zu Aufnahmen anreisen; der SWR schnitt wie geplant zwei Konzerte mit; fast alle Programme vor Ort wurden auf Video aufgenommen und Mitwirkende aus dem Ausland konnten ihren Beitrag aufzeichnen. (Das galt auch für Hosokawas Grußwort.) Auf diese Weise wird das Festival zumindest im Internet erfahrbar werden. Außerdem soll ein großer Teil des ursprünglich geplanten Programms in einer Neuauflage „Da Capo“ vom 12. bis 14.November 2021 öffentlich wiederholt werden oder sogar erstmals erklingen.

So blieb als einzige Aufführungsstätte im öffentlichen Raum das Carillon am Museum für Zeit, für das der italienische Komponist Daniele Ghisi (Jg. 1934), vor zwei Jahren Composer-in-Residence, zum einen „Rockenhausen-Almanach“ aus 52 Miniaturen für jede Woche des Jahres komponiert hat, zum andern eine ausgedehnte Komposition, die er den Opfern der Corona-Pandemie gewidmet hat. Ihr Titel „Fulgura frango“ („Ich breche die Blitze“) ist sinnigerweise dem Motto von Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“ entlehnt. Zur Uraufführung am Sonntagmittag bei frisch einsetzendem Nieselregen haben sich an die zwanzig verstreut stehende Interessenten zusammengefunden. Pünktlich um 12 Uhr legt sich eine gellende Alarmglocke über das kräftige Geläut der beiden Stadtkirchen und erzeugt einen nervös pulsierenden Halbton-Seufzer. Die Kirchenglocken klingen langsam aus, doch der Alarm, nun auf engem Raum melodisch erweitert, bohrt sich weiter in die Ohren. Nach einer Weile legt sich darunter eine helle Totenglocke, die mehrmals verklingt und alsbald wieder einsetzt. Schließlich folgt als dritte Schicht in tieferer Lage die Andeutung eines normalen Geläuts. Dessen einzeln, verstreut oder in Gruppen erklingenden Töne könnten zusammen das berühmte Viertonmotiv ergeben, das alle Viertelstunde vom Turm des englischen Parlaments in Westminster erklingt – sozusagen ein Symbol von Ordnung und Beständigkeit in Zeit und Gesellschaft. Doch soweit kommt es nicht. Während die benachbarten Kirchtürme die Viertelstunden markieren, bleibt das Corona-Geläut in stets wechselnden Konstellationen und unterschiedlicher Dichte präsent. Ein Krähenschwarm geizt nicht mit krächzenden Kommentaren. Der Regen hört auf, und phasenweise scheint die Musik zur Ruhe zu kommen. Doch es dauert 37 Minuten, bis die letzten Töne verklingen, und immer noch behält man den Alarm im Ohr wie einen Tinnitus…

„Indem ein musikalisches Ereignis geschieht, sinkt es in die Vergangenheit und erweckt Erwartung auf das dem Vergehen Entgegenkommende: die Zukunft.“ Ghisis Carillon-Stück verkörpert in diesem Moment idealtypisch diese von Bernd Alois Zimmermann beschriebene Erfahrung. Das Zitat stammt aus Zimmermanns Werkkommentar zu seiner Cello-Sonate und war Bestandteil des samstäglichen Spätprogramms, bei dem die Tochter des Komponisten, Bettina Zimmermann, und der Journalist Rainer Peters Texte von und über Zimmermann lasen und die Cellistin Jessica Kuhn und der Pianist J. Marc Reichow Solowerke für ihr Instrument vortrugen. „Die Zeit ‚öffnet sich‘“, schrieb Zimmermann weiter: „Träume, Gedanken, Wirklichkeiten treten hervor und tauschen sich aus mit Erinnerungen, Erwartungen und Unwirklichkeiten.“ Vielleicht braucht es erst die Corona-Pandemie, um uns klar zu machen, wie nahe  Zimmermanns theoretisches Konzept von der Kugelgestalt der Zeit am Erleben des vernehmenden, assoziierenden und sinnierenden Hörers ist, und wie stark ein Konzertabend dazu beitragen kann, dem Diktat einer erdrückenden Gegenwart zu entkommen. Der Berichterstatter weiß jedenfalls das Privileg zu schätzen, als Fachbesucher diesem dichten, intensiven, vielseitigen Programm beiwohnen zu dürfen.

Freuen dürfen sich die Hörer 2021 (hoffentlich) jetzt schon auf die Wiederholung zweier Hosokawa-Programme mit dem beeindruckenden jungen Pianisten Tomoki Kitamura, auf ein erfrischendes Gastspiel des Duos „Windspiel“ in der Besetzung Blockflöte/Akkordeon, auf das junge Klavierduo Clara und Marie Becker und auf das KlangForum Heidelberg, das Musik aus Renaissance und Frühbarock in origineller Weise mit Kompositionen von Zimmermann und Helmut Lachenmann kombiniert. Für den Schritt zurück von der exklusiven Künstler-Werkstatt in die Öffentlichkeit wäre allerdings noch über Vermittlungsstrategien nachzudenken. Wenn etwa beim engagiert und charmant auftretenden Ensemble BRuCH zu rätselhaften Werken namens „Wie ein Stück Fett“ (Matthias Krüger) oder „nag lalang man ta salunay“ (Feliz Anne Reyes Macahis) ellenlange Komponistenbiographien zu lesen sind, aber kaum Hilfen zum Verständnis gegeben werden, fehlt noch ein entscheidender Schritt in Richtung eines nicht unbedingt erfahrenen, aber interessierten Publikums.

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