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theater für niedersachsen: „Don  Chisciotte“, im Bild: Eddie Mofokeng (Radipelo), Neele Kramer (Brunirosa), Sonja Isabel Reuter (Dorotea), Uwe Tobias Hieronimi (Marcello), Yohan Kim (Don Chisciotte), Foto: Clemens Heidrich

theater für niedersachsen: „Don  Chisciotte“, im Bild: Eddie Mofokeng (Radipelo), Neele Kramer (Brunirosa), Sonja Isabel Reuter (Dorotea), Uwe Tobias Hieronimi (Marcello), Yohan Kim (Don Chisciotte), Foto: Clemens Heidrich

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Wahn, Witz und Wahrheit – Deutsche Erstaufführung von Manuel Garcías „Don Chisciotte“ am Theater Hildesheim

Vorspann / Teaser

Personen, Kostüme, Handlung, Text und Musik verwirren. Nichts will richtig zusammenpassen. Die aristotelische Einheit von Ort, Zeit, Handlung hat Risse und lässt wie durch Wurmlöcher parallele Universen aufeinanderprallen. Hier agiert eine geharnischte Gestalt des 13. Jahrhunderts wie ein sagenhafter Drachentöter. Dort aber stolzieren Offiziere des frühen 19. Jahrhunderts und klagen sittsame Landleute, ein tolldreister Ritter habe ihnen die Windmühlen zerschlagen und Schafherden vertrieben. Werk und Inszenierung vermischen Epochen und Realitätsebenen, denn die Titelfigur ist niemand anderes als „Don Chisciotte“.

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Der verarmte Adelige aus Miguel de Cervantes gleichnamigem Roman hat auf seinem langweiligen Landsitz in der Provinz so viele Heldenepen gelesen, dass er schließlich selbst ein Ritter zu sein glaubt und mit seinem Nachbarn Sancio Pancia auf Abenteuer auszieht. Dabei vollbringt der Träumer allerdings nur imaginär Heldentaten, tatsächlich aber kleine Missetaten. Alles geschieht sowohl in der erzählten Realität des Romans bzw. Theaters als auch fiktional in der Fantasie des Verwirrten sowie im vorgegaukelten Theater im Theater – symbolisiert durch ein Leintuch mit aufgemaltem Drachen –, das den Ritter von der traurigen Gestalt einwickelt, um ihn wieder nach Hause zu bringen.

Die vermutlich 1829 in Paris uraufgeführte und erst 2006 wiederentdeckte zweiaktige Oper „Don Chisciotte“ stammt von Manuel García (1775–1832). Der heute weitgehend vergessene spanische Komponist war vor allem ein gefeierter Tenor. Er sang den Almaviva der Uraufführung von Rossinis „Barbiere di Siviglia“, machte den italienischen Starkomponisten schon in den 1820er Jahren in den USA bekannt, verfasste eine bis heute praktizierte Gesangsschule und war Vater von zwei der berühmtesten Sängerinnen des 19. Jahrhunderts: Maria Malibran und Pauline Viardot-García. Zweihundert Jahre später erlebte seine Oper nun am Theater Hildesheim ihre deutsche Erstaufführung. Die italienische Opera semiseria basiert auf der Nummernfolge von Rezitativ und Arie sowie Ensemble- und Chorsätzen bei Szenen- und Aktschlüssen. Manche Passagen erinnern an Rossinis, vor allem charakteristische Crescendo-Walzen. Ansonsten knüpft García eher an ältere Vorbilder der Zeit von 1750 bis 1780 an. Es überwiegen epochen-typische Figuren, Läufe, Ornamente, Triller und Dreiklangsmelodien. Alles ist nett zu hören, hat aber nicht den Witz und Ausdruck eines Mozart, Rossini, Bellini, Cherubini oder Donizetti. Melodik und Harmonik bleiben erwartbar und dadurch auf die Dauer von zweieinviertel Stunden ein bisschen ermüdend. Die von Koloraturen strotzenden Arien sind hoch virtuos, berühren aber trotz allem Wüten, Klagen, Sehnen, Schmachten nicht wirklich.

Die Affekte wechseln abrupt von einem Extrem zum anderen. Eben lamentierte Sancio Pancio (Andrew Andreychik) noch über den Verlust seines Esels und plötzlich tanzt munteres Landvolk zu einer flotten Musette über die Szene. Die von Opernchor und Extrachor des Theaters für Niedersachsen zündend vorgetragenen Einlagen dienen mehr der musikalischen Abwechslung als der Handlung. Die bis zum Selbstmord rettungslos verzweifelte Dorothea (Sonja Isabel Reuter) erschießt versehentlich (oder doch mit Absicht?) ihren untreuen Mann Fernando (Seunghoon Baek), mit dem sie vor dessen Tod noch ein bukolisches Duett über die Freuden von Leben und Liebe singt. Der herbeigeilte Cardenio (Julian Rohde) triumphiert kurz über den toten Rivalen und feiert gleich darauf zu soldatisch tirilierenden Holzbläsern einmal mehr Ruhm, Ehre, Sieg und Heldentum. Die sängerischen und schauspielerischen Leistungen der Mitwirkenden sind allesamt gut. Besonders heraus ragen die Strahlkraft und Komödiantik von Tenor Yohan Kim in der Titelpartie sowie Sonja Isabel Reuters ebenso virtuose wie dramatische und ironisch-witzige Gestaltung der Dorothea mit vielen exaltierten Koloraturarien. Das Orchester brachte die Rarität unter Leitung von Florian Ziemer souverän zur Aufführung.

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theater für niedersachsen: „Don  Chisciotte“, im Bild: Sonja Isabel Reuter (Dorotea), Dirk Flindt (Goya), Foto: Clemens Heidrich

theater für niedersachsen: „Don  Chisciotte“, im Bild: Sonja Isabel Reuter (Dorotea), Dirk Flindt (Goya), Foto: Clemens Heidrich

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Bei Cervantes durchdringen sich die Mittelalterschwärmereien des Möchtegern-Ritters und das damalige Barockzeitalter kurz nach 1600. Analog dazu überlagert die Inszenierung von Seollyeon Konwitschny-Lee Cervantes mehrschichtiger Romanhandlung mit der Entstehungszeit von Manuel Garcías Oper kurz nach dem spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die französischen Besatzer 1808 bis 1814. Zur Ouvertüre sieht man den spanischen Maler Francisco Goya schlaflos als stummen Darsteller (Dirk Flindt) Cervantes „Don Quixote“ lesen und dazu drei Chimären aus Esel und Mensch durch die nächtliche Szene huschen. Der erste Akt endet mit einem Tableau vivant von Goyas berühmtem Gemälde „Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808“. Die Komödie verkehrt sich plötzlich zur Tragödie der damaligen napoleonischen Gräueltaten, Inhaftierungen und Exekutionen. Die im zweiten Akt zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilte Dorothea hat das Schild „Weil sie liberal war“ aus einer weiteren Grafik von Goyas berühmtem Zyklus „Los desastres de la guerra“ um den Hals. Kostümbildnerin Amelie Müller gestaltet viele ausdrucksvolle Figuren und beziehungsreiche Bilder. Im ersten Akt treten Don Chisciotte und Dorothea doppelt als reale Bühnenfiguren und Marionetten auf, denn für den Mann aus La Mancha wird ja Theater im Theater gespielt. Da der Titelheld durch das Vorgaukeln von Riese und Königin Micomicona eingefangen werden soll, wird der Sänger in das Fadengestell seines marionettenhaften Alter Ego gespannt. Umgekehrt befreit sich die anfangs im Puppenspiel hängende Dorothea in dem Moment aus den Stippen, da sie in der Rolle der Königin für die Fantasie des Helden erst richtig lebendig wird. Auf dem Scheiterhaufen sind ihre Arme dann erneut gefesselt, jedoch mit Eisenketten.

Der ganze Tumult ereignet sich letztlich in der lebhaften Vorstellungskraft des Fabulierers bzw. in einem Gasthaus, dessen habgieriger Wirt am Ende als bestechlicher Richter mit langer Perücke erscheint, der das Geschick der versammelten Personen verhandelt. In dieser Welt voll Gier, Hass, Gewalt, Eifersucht, Untreue, Lüge und Lüsternheit erweist sich Don Chisciotte letztlich als der einzige integre, tugendhafte Mensch. Musik und Bühnengeschehen changieren zwischen tatsächlicher und bloß vorgespielter Tragik wie zwischen Wahrheit und Fantasie, Fakt und Fake. Beim Gnadengesuch wird Imperator Napoleon von einem betörenden Terzett eingelullt und mit einer vor dem Gesicht im Takt pendelnden Taschenuhr hypnotisiert. Brillant vorantreibende Märsche werden mit übertriebenen Ausfallschritten und heroischen Gesten ironisiert. Mit dem französischen Kaiser Napoleon – zu dem der märchenhafte Riese in der kriegerischen Realität des frühen 19. Jahrhunderts wird – bringt die Regie auch neue Texte ins Libretto. Don Chisciotte bekommt Sätze aus Maupassants „Brief eines Verrückten“ in den Mund gelegt, die wiederum Montesquieus Frage nach dem Dunkel der Welt zitieren, das den beschränkten fünf Sinnen des Menschen verborgen bleibt. Als Schlussbild erscheint aus Goyas berühmtem Zyklus „Caprichos“ die Grafik „Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor“.

Eine Spezialität des Theaters Hildesheim ist es, während einer Spielzeit dasselbe Sujet gleich dreimal sowohl als Oper, Schauspiel und Musical zu präsentieren. Bisher hatte Anna Siegrot für das Dreispartenhaus bereits die Bühnenbilder für je drei Inszenierungen von „Medea“ und „Hamlet“ geschaffen. Für „Don Chisciotte“ entwarf sie einen kreisrunden Raum mit verschiebbaren Wandsegmenten, so dass sich wechselnde Konstellationen von innen und außen, offen und geschlossen bilden lassen. Das funktionale Bühnenbild dient dann ab Januar 2025 auch dem Schauspiel von Rebekka Kricheldorf nach Cervantes und ab März dem Musical von Dale Wasserman mit Musik von Mitch Leigh auf Texte von Joe Darion. Gegenwärtig gibt es allerdings Existenzängste am Theater, wie der Darsteller des Dorfwirts Uwe Tobias Hieronimi dem begeistert applaudierenden Publikum berichtete. Denn nach aktuellen Etatplanungen soll das Hildesheimer „Theater für Niedersachsen“ fortan vom Land nur noch 3,7 statt bisher 6 Millionen Euro Förderung erhalten. Dadurch drohen Stellenabbau, Qualitätsverlust und insgesamt ein Theatersterben im Flächenland Niedersachsen, dessen Kulturausgaben pro Kopf den vorletzten Platz unter den Bundesländern belegt. Das bereits 2018 gegründete Aktionsbündnis von Theaterschaffenden aller Ensembles und öffentlichen Bühnen in Niedersachsen, dem auch Musiker und unisono angehören, wird am 7. November gegen die Sparmaßnahmen der Landesregierung vor dem Landtag in Hannover demonstrieren. Hoffentlich bleibt diese Aktion kein bloßer Kampf gegen Windmühlen!

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