Der Phantomschmerz bleibt. Da führt kein Weg vorbei, jeder muss, vor und nach dem Konzert, unvermeidlich den Platz mit dem Römerbad Hotel überqueren, das fest in Spekulantenhand und seit nunmehr drei Jahren gänzlich stillgelegt ist. Immer noch eine Gründerzeit-Schönheit, trotz der toten Fenster. Nur im Küchentrakt glimmt Notlicht. Über drei Jahrzehnte hinweg hatte der Hotelier Klaus Lauer hier seine „Römerbad-Musiktage“ kuratiert, hatte Komponisten, Interpreten, Schriftsteller und Künstler aller Sorten um sich versammelt, mitsamt den Hotelgästen bewirtet und ins Gespräch gebracht, schließlich dergestalt einen exklusiven Treffpunkt für die Gegenwartsmusik geschaffen.
Es ist schwer bis unmöglich, mit diesem mächtigen Mythos zu konkurieren. Das Badenweiler’sche Kurhaus, gleich nebenan, eine pragmatische Retro-Scheußlichkeit aus Sichtbeton und Glasfront, gibt sich äußerlich nicht mal die Mühe. Drinnen, immerhin, beherbergt es den nach einem der großen Bürger des Städtchens benannten René-Schickele-Saal. Der klingt gut, ja, er bietet deutlich mehr Transparenz als das legendäre Römerbad-Oktogon – sagen jedenfalls diejenigen aus dem Publikum, die mit den 2015 neu gegründeten Badenweiler Musiktagen hierher umgezogen sind und nun zweimal jährlich anreisen, teils von weit her, um Neue Musik zu hören, oder auch ältere, auf neue Weise. Frage zurück: Haben wir uns den ollen Kursaal vielleicht schon schön gehört? Was soll’s! Anderswo musiziert man in Turnhallen. 600 Plätze sind zwar für ein Kammermusik-Recital fast zu viel. Doch mit den versetzten Blocks und einem breiten Rang eignet sich der Saal auch bestens für Szenisches und Raummusiken.
Letzteres hatte Lauers Nachfolgerin Lotte Thaler, vormals SWR-Musikredakteurin und als solche bestens vernetzt, in der Frühlingsausgabe der diesjährigen Badenweiler Musiktage erstmalig ausprobiert: Unter Mitwirkung des SWR-Experimentalstudios wurde die Zweitaufführung der Komposition „Strings“ für Quartett und Stimme von Robert HP Platz dargeboten, ein zartes Spinnennetz aus Tonfäden webend, rund um Rätseltexte von Alban Nikolai Herbst. „First Nights“ wie diese sind naturgemäß vergleichsweise rar geworden in Badenweiler. Erstens mangelt es am lieben Geld, zweitens fehlt auch wohl das spezielle Komponistenverwöhnflair des Grandhotels. Doch auch der Faktor Zeit spielt eine Rolle: Neues braucht Vorlauf. Thaler, die erst 2018 die künstlerische Leitung übernahm, sieht das entspannt. Sie folgt, wie in der Novemberausgabe zu erfahren, immer noch der bewährten Lauer-Dramaturgie: beste Interpreten, unbekanntes Repertoire.
Vertrautes steht neben Verschollenem und Zeitgenössischem, junge Künstler neben großen Namen. Denn, so Thaler: „Musik ist wie Literatur oder Bildende Kunst eine lebendige Angelegenheit – wir lesen ja auch nicht nur Romane aus dem 18. Jahrhundert.“ Zum Höhepunkt wurde das Finalkonzert mit einer phänomenalen Performance der selten oder nie aufgeführten Hochzeitskantate „Die Serenaden“ von Paul Hindemith. Tabea Zimmermann hatte sich die richtigen Musikerfreunde mitgebracht für diese Traumpoesie – Bratsche, Oboe und Violoncello umschwärmten die Sopranistin Caroline Melzer. Zu einer Entdeckung wurde der Auftritt des jungen Dover-Quartets aus Philadelphia. Dass es sich bei diesen mehrfach Preisgekrönten um „Ziehkinder“ des Guarneri-Quartets handelt, spiegelt sich herrlich in der Leichtigkeit der Linienführung, der Feinheit der Konturen und einem Nuancen-Reichtum, der sowohl das Quartett op. 67 von Brahms wie auch das Quartett op. 16 von Hindemith in helles Licht rückte. Das Atos-Trio kombinierte eine Jugendsünde Korngolds mit den dunklen Pathosfarben von Weinberg, allemal serviert mit hohem Schmalzfaktor. Die Festivalpianisten im November waren Stefan Litwin (mit der Concord-Sonata) und Bertrand Chamayou (mit wagnerumwölktem Ravel). Und für die nächste Saison steht schon jetzt stolz auf der Agenda: „Bruce Pauset, Uraufführung Neues Werk.“