Das ist schon eine seltene Konstellation: Nicht nur das Staatstheater Mainz eröffnet die neue Opernsaison mit Alexanders Zemlinskys selten gespieltem Einakter „Der Zwerg“, sondern auch das 80 km südwestlich gelegene Pfalztheater in Kaiserslautern. Beide Theater kombinieren ihn jeweils mit einem weiteren Einakter, der vier Jahre zuvor zur Uraufführung kam.
Die Rheinhessen wählen „Gianni Schicchi“ von Giacomo Puccini, die Pfälzer „Herzog Blaubarts Burg“ von Béla Bartók. Kaiserslautern hat einen Regisseur und ein Spielzeitmotto, Mainz hingegen probiert – ohne Motto – zwei Regiehandschriften.
Kaiserslautern
Unter der sprachlich etwas sperrigen Überschrift „Liebe! Versuch Liebe“ widmet sich das Pfalztheater in dieser Saison den Bedingungen des Scheiterns oder Gelingens von Liebesbeziehungen. So wie Intendant und Regisseur Urs Häberli die Inszenierung von „Herzog Blaubarts Burg“ anlegt, bildet der 1918 in Budapest uraufgeführte Einakter einen idealen Einstieg. Judith, die frisch angetraute Ehefrau, verlangt von Blaubart nach und nach, alle sieben Türen seiner berüchtigten Festung zu öffnen. Widerstrebend kommt er dem nach. Alles was sie sieht, erscheint ihr blut- und schuldbefleckt, außer der strahlenden Landschaft hinter der 5. Tür, die musikalisch in ein strahlendes C-Dur getaucht ist, das so weit vom düsteren fis-Moll des Beginns entfernt ist wie nur irgend möglich. Hiermit könnte die Braut es bewenden lassen und sich auf eine gemeinsame Zukunft freuen, doch stattdessen führt sie gegen ihren Bräutigam eine Art privaten Prozess, der damit endet, dass sie selbst mit der siebten Tür als letzter, vergeblicher Versuch einer geglückten Beziehung in die Lebensgeschichte Blaubarts eingeht. Gibt es eine Biographie ohne Schuld? Muss man in einer Liebesbeziehung jedes Geheimnis offenbaren? Wieviel Macht darf man der Vergangenheit über die Gegenwart einräumen?
Als Zuhörer und Beobachter schwankt man zwischen der (auch musikalischen) Neugier auf die nächste Tür und dem empathischen Wunsch nach einem Innehalten auf dem anscheinend vorprogrammierten Weg. Bühnenbildner Thomas Dörfler hat eine gemauerte dunkle Halle mit verschiedenfarbigen Wandelementen und einer über eine Wendeltreppe erreichbaren Galerie hingestellt, die den Figuren kein Ausweichen erlaubt. Ohne überflüssigen Aktionismus, allein durch Gesang, Körperspannung, Gesten und Annäherungen entwickeln Guido Jentjens und Adelheid Fink ein fesselndes 60-minütiges symbolisches Kammerspiel über das Scheitern einer Liebesbeziehung. Vor allem zu Anfang wünscht man sich zwar eine deutlichere Artikulation der gesungenen deutschen Übersetzung, kann sich aber mit der Übertitelung behelfen. Dem Orchester des Pfalztheaters unter GMD Uwe Sandner ist anzumerken, dass seit langen Jahren Opernraritäten des 20. Jahrhunderts auf dem Spielplan stehen. Die Musiker sind versiert und stilerprobt, da sitzt alles, wo es sitzen soll, und fließt, wo es fließen soll. Allenfalls erliegt Sandner manchmal der begreiflichen Versuchung, den reizvollen Orchesterklang zu stark aufzudrehen – allerdings weniger bei Bartók als in einigen spätromantisch überbordenden Passagen von Zemlinskys „Zwerg“.
Die Empathie des Publikums, die bei Bartók beiden Protagonisten gilt, lenkt das Regieteam bei Zemlinsky eindeutig auf die Seite des unglücklichen Kleinwüchsigen, der sich seiner Hässlichkeit nicht bewusst ist und vom türkischen Sultan der spanischen Infantin Donna Clara als Geschenk zum 18. Geburtstag überreicht wird. Die Welt des Hofes ist konsequent als Karikatur mit gegenwartskritischem Unterton gezeichnet. Ein großer weißer Stuhl für die Infantin, überdimensionale Spiegel im Thronsaal, Rosenblätter noch und noch, Geschenke und Kleidung der Gespielinnen im unsäglichen Pink der Kleinmädchenzimmer und neuerdings grassierenden Junggesellinnen-Abschiede – die spanische Prinzessin (Jihyun Cecilia Lee) erscheint als verwöhnte, narzisstische Göre. Der Hofstaat ist dominiert von Neugier, Klatsch und Tratsch – und geübt in den Methoden der Ausgrenzung, die man heute „Mobbing“ nennt. Die Damen im Ensemble sowie aus Chor und Extrachor entwickeln dabei eine beeindruckende Klangfülle. Als erfahrener Orchesterdirigent hat Zemlinsky allerdings dafür gesorgt, dass die exakte Schilderung des Zwergs durch den Haushofmeister klanglich nicht überlagert wird. Das sorgt für Spannung im Publikum, bis die große Kiste angeliefert und das neue Spielzeug der Infantin sichtbar wird. Die Regie nimmt die Körpergröße nicht wörtlich, sondern symbolisch: Heiko Börner läuft erst unruhig in der hüfthohen Kiste umher, dann kippt er sie um und rutscht hinaus. Er bleibt eine Weile auf den Knien, um sich dann auf die Beine zu erheben. Was ihn dann noch zum Außenseiter macht, sind das rote Muttermal auf seiner Glatze, seine körperliche Unbeholfenheit, seine Unerfahrenheit mit dem höfischen Milieu, und seine unverstellte Sensibilität.
Zu seinem Unglück reißt er in seiner Ungeschicklichkeit die Verkleidung der zuvor verhängten Spiegel herab. Anders als der Hofstaat, der sich permanent selbst bespiegelt, aber nicht erkennt, realisiert er nach verzweifeltem Kampf mit seinem Spiegelbild die eigene Hässlichkeit und stirbt, unglücklich in die Infantin verliebt, an gebrochenem Herzen. Börner beeindruckt dabei durch seine differenzierte, immer expressivere Rollengestaltung ebenso wie durch die in hoher Lage noch weich geführte Tenorstimme. Zu spät erkennt Ghita (Arlette Meißner), die hinter einer rauen Schale durchaus empathiefähige Lieblingszofe der Infantin, unter der abstoßenden Gestalt „ein schönes Herz“. Ihre Einsicht bleibt wirkungs- und folgenlos. Dass sich die ihr Dessert löffelnde Infantin über die kurze Haltbarkeit des geschenkten Spielzeugs mokiert und demonstrativ wieder tanzen geht, überrascht da schon kaum mehr. Die Bühne lässt hier das Ausweichen nach hinten zu. Aber wenigstens einen Moment der Irritation hätten wir uns gewünscht.
Mainz
In Mainz wagt sich die bisherige Regieassistentin Rebecca Bienek an Zemlinskys 1922 in Köln uraufgeführten Einakter. Nicht Pink, aber das ihm benachbarte Rosa ergänzt das Schwarzweiß der von Paul Zoller und Valentin Köhler gebauten Bühne, doch anstelle eines Spiegelsaals finden wir verschiedene Holzstege. Zofen und Hofdamen sind ältliche Fräulein mit blonder Perücke, und die Infantin (Marie-Christine Haase) selbst ein hässlicher, glatzköpfiger Gnom, der erst mit Perücke und Kleid zur Prinzessin ausstaffiert wird. Alexander Spemann als Zwerg geht von Beginn aufrecht, bewegt sich allerdings in seiner Ritterrüstung durchweg roboterhaft. Als Heldentenor ohnehin keine Idealbesetzung, versucht er die szenische Steifheit durch stimmlichen Nachdruck zu kompensieren und verfällt dabei unglücklich ins Forcieren. Das unterdessen ziemlich langweilige Bühnengeschehen läuft dabei auf den Moment zu, in dem sich die wieder glatzköpfige Infantin hinter einer Glasscheibe dem Zwerg selbst als sein vorgebliches Spiegelbild darbietet. Der bricht rasch zusammen und bleibt in verkrampfter Haltung liegen, als Spielzeug ohne Herz und Seele. Letztlich inszeniert Bienek damit nicht nur gegen Zemlinskys dramatische Intention, sondern auch gegen seine Partitur. Zunächst staunt man nur, wie ziellos die Klänge über dem Orchestergraben wabern, wie überladen und wie überflüssig viele Passagen wirken und wie ungenau das Philharmonische Staatsorchester unter GMD Hermann Bäumer spielt. Doch dann wird einem klar: Die Situationen, Charaktere und Bilder, für die diese feinfühlige Musik bestimmt ist, sind schlicht hinweginszeniert, sie hat ihre szenische Aufgabe verloren.
Mit Puccinis wirkungsvoller, 1918 in New York uraufgeführter, aber in Florenz spielender Erbschleicher-Komödie „Gianni Schicchi“ hat danach ein so routinierter Theatermacher wie Hausregisseur K.D. Schmidt eigentlich leichtes Spiel. Schmidt – die abgekürzten Vornamen sind sein Markenzeichen – gibt sich dennoch besondere Mühe und inszeniert ebenso geschickt wie sorgfältig. Er zeigt nicht nur Mut zu karikierender Überzeichnung und zu satirischen Saitenhieben auf die rheinhessische Landeshauptstadt, den Einwanderungsdiskurs und die vorgeblich besseren Leute, sondern auch ein eminentes Gespür für Pausen und für den Gestus der Partitur. Zu Beginn dauert es lange, bis die Musik überhaupt einsetzt, aber dann tut sie es mit einer Wucht und einer Kraft, die die Darsteller geradezu in ihren jeweiligen Habitus zwingt – sehr bald mit dem Titelhelden in der Mitte, den Peter-Felix Bauer als raffinierten Proleten mit langen Haaren, schmuddeligen Jeans und Goldkettchen auch stimmlich sehr authentisch gibt. Orchester und Dirigent wirken wie ausgewechselt – farbig und prägnant im Spiel, und geradezu faszinierend im Karikieren, im Charakterisieren und im Erzeugen szenischer Spannung. Nun tritt auch die kombinierte sängerisch-darstellerische Qualität des Mainzer Ensembles zutage. Für das Mainzer Staatstheater stellt sich allerdings die Frage, ob das so sympathische Konzept flacher Hierarchien, verschiedenster künstlerischer Handschriften und thematischer Vielfalt nicht doch eine stärkere Bündelung bräuchte. Zu mager und zu disparat ist im Musiktheater bislang der künstlerische Ertrag, schon in der vergangenen Spielzeit. Und wer, in aller Kultur-Welt, macht Regieanfängern immer noch weis, es sei besonders originell, in der Oper die Ohren zu verschließen?