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Musikhistoriographie(n). Bericht über die Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft. Wien 21.–23. November 2013, hrsg. v. Michele Calella/Nikolaus Urbanek, Wien, Hollitzer Verlag 2015, 279 S., € 29,90, ISBN 978-3-99012-240-2
Musikhistoriographie(n). Bericht über die Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft. Wien 21.–23. November 2013, hrsg. v. Michele Calella/Nikolaus Urbanek, Wien, Hollitzer Verlag 2015, 279 S., € 29,90, ISBN 978-3-99012-240-2
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Berührungsängste und Ansätze

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Ein schulpraktischer Blick auf zwei akademische Sammelbände zum Problem „Musikgeschichte“
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Musikgeschichte im Musikunterricht? Eigentlich dürfte das kein so großes Problem sein. Fragt man Oberstufenschüler zu Beginn des Unterrichts nach ihren Wünschen, nennen Sie in der Regel neben viel Musikpraxis auch einen Überblick über die Musikgeschichte, der bis in die Gegenwart führen und auch die Entwicklung der Popmusik einschließen soll. So etwas gehöre zur Allgemeinbildung. Auch in der Mittelstufe heißt es: „Man sollte schon wissen, wer Mozart ist.“ Die Musikdidaktik allerdings tut sich schwer mit der Musikgeschichte, und viele Musiklehrerinnen und Musiklehrer auch. Zu stark hat sich die Musikpraxis in den Vordergrund geschoben, zu fordernd erscheint das Bedürfnis der Lernenden nach „ihrer“ Musik, zu sehr fürchtet man sich vor den Ansprüchen an musiktheoretisches Verstehen, und zu deutlich sind die Zweifel an der Selbstverständlichkeit der abendländischen Musikkultur gewachsen.

Aber hat der Musikunterricht nicht einen gesellschaftlichen Auftrag? Gerade hat Deutschland seine Theater- und Orchesterlandschaft für die internationale UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes nominiert. Diese musikalische Kulturlandschaft ist nicht nur ein Resultat unserer politischen, unserer Kultur- und unserer Musikgeschichte, sondern sie geht auch permanent mit Tradition um. Und hat unser Land nicht schon 2007 die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt ratifiziert und sich damit verpflichtet, „die besondere Natur von kulturellen Aktivitäten, Gütern und Dienstleistungen als Träger von Identität, Werten und Sinn anzuerkennen“ – aber auch, „den Dialog zwischen den Kulturen anzuregen, um weltweit einen breiteren und ausgewogeneren kulturellen Austausch zur Förderung der gegenseitigen Achtung der Kulturen und einer Kultur des Friedens zu gewährleisten“?

Und  ist nicht die Geschichtswissenschaft gerade dabei, die Rolle der Musik als Träger menschlicher Kommunikation neu zu entdecken? Nicht nur Historiker, sondern auch Architekten und Bildende Künstler sprechen von einer „akustischen Wende“ nach jahrzehntelanger Dominanz des Visuellen. Es tun sich neue Blickwinkel, neue Fragen, neue Ideen auf, nach denen auch die Musikgeschichte zu befragen wäre. Woran aber orientieren sich Musiklehrerinnen und -lehrer? Eher nicht an Musikwissenschaftlern oder Musikdidaktikern, von denen sie sich eher im Stich gelassen fühlen. Vermutlich stark nach ihrer eigenen künstlerischen Sozialisation, nach aktuellen kulturellen Angeboten, nach Vorgaben der Lehrpläne und nach den Angeboten von Fachzeitschriften und Lehrbüchern.

Interessant liest sich in diesem Zusammenhang der Aufsatz der Kasseler Musikpädagogin Frauke Heß im Sammelband „Musikpädagogik der Musikgeschichte“. Die Autorin hat Schulbücher für die Orientierungsstufe ver-glichen und ist zum einen auf eine verblüffende Übereinstimmung in der Werkauswahl gestoßen, die eine Art „ungewollten Kanon“ abbildet. Zum andern konstatiert sie die pädagogische „Zurichtung“ dieser Werke auf klare unterrichtliche Absichten. An die Musikpädagogik richtet sie das Anliegen, ein musikalisches Werk nicht seiner Vieldeutigkeit zu berauben, und an die Musikwissenschaft die Bitte um „Unterstützung darin, Musikwerke nicht als Vergegenständlichung von Faktenwissen zu behandeln, sondern gemeinsam nach Zugängen zu suchen, die das aisthetische Moment der Musik stark machen, ohne dabei in einer rein subjektiven Beschäftigung zu verharren.“ Das ist nun in der Tat eine zentrale Frage: Fakten und Schemata lassen sich zwar im Schulunterricht bequem abfragen und prüfen, ein Zugang zur Musik wird damit aber Kindern und Jugendlichen nicht eröffnet.

Frauke Heß’ Aufsatz ist damit näher an der Schulpraxis als die meisten anderen Texte des Sammelbandes, der auf ein Symposium „Musikpädagogik der Musikgeschichte“ im Juni 2014 an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg zurückgeht. Lars Oberhaus und Melanie Unseld, Organisatoren der Veranstaltung, berichten im Vorwort,  die Idee dieses Symposiums sei aus „Flurgesprächen“ an einem Institut entstanden, in dem die Disziplinen Musikpädagogik und Historische Musikwissenschaft eher nebeneinander her als miteinander existierten. Immerhin, möchte man rufen, andernorts gibt es nicht einmal gemeinsame Flure!

Der Sammelband liest sich fast durchweg anregend, im Einzelfall auch schon einmal abschreckend akademisch. Wer sich als Musiklehrer direkte Orientierungshilfen für die eigene Arbeit erhofft, sei indessen gewarnt. Die Herausgeber schreiben selbst, man finde „vereinzelte Ansätze einzelner Autorinnen und Autoren“, und mit der Publikation sei „ein Zwischenstand erreicht, an dem weiterzudenken wir einladen.“ Es sind dann gleich mehrere Beiträge, die ehrenwerte und gut begründete Skrupel vor dem Erzählen (im weitesten Sinne) von Musikgeschichte artikulieren. Befriedigend ist diese Tendenz nicht, denn dort, wo berufene Experten nicht erzählen wollen, erzählen dann eben andere: Lehrpläne, Schulbücher, Musiklehrer, Kinder-Kassetten, Konzertprogramme, Werbeträger.

Zukunftsweisend erscheinen mir die „Thesen zur musikalischen Historik“ des Wiener Musikwissenschaftlers Nikolaus Urbanek. Demnach müssen wir uns bewusst machen, dass jede Erzählung von Geschichte „eine partikulare, selektive, perspektivische Konstruktion ist.“ Dennoch bräuchten wir eine  übergreifende Vorstellung von Musik, die erkennen lasse, was innerhalb der allgemeinen Geschichte eine spezifische „Musik“-Geschichte ausmacht, und über verschiedene Zeiten und Musikkulturen hindurch tragfähig sei. Unsere Wissens- und Informationsgesellschaft benötige die Musikgeschichte weniger zur forschenden Vertiefung von Wissen als zur Eröffnung von Sinn- und Orientierungsangeboten. Kern der Sache, vermutet Urbanek, sei die ästhetische Erfahrung von Musik. Im Herbst 2016 hat der Autor nun seine Antrittsvorlesung am Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien gehalten und sie – in Anspielung auf Friedrich Schillers legendäre Jenaer Antrittsvorlesung 1789 – unter die anspruchsvolle Überschrift gestellt: „Von der vergangenen Zukunft in unsere breite Gegenwart – Was ist und woraufhin erzählen wir Musikgeschichte?“ Letzteres ist nun in der Tat eine Frage, über der sich Musikpädagogik und Musikwissenschaft zusammenfinden müssten und zu der man wissenschaftliche Antworten wohl erwarten darf.

Ein weiterer Sammelband, als dessen Herausgeber Nikolaus Urbanek und sein Kollege Michele Calella vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien fungieren, beleuchtet die aktuelle Fachdiskussion innerhalb der Musikwissenschaft. Der Titel der Tagung und des Buches, „Musikhistoriographie(n)“, deutet bereits an, dass es durchweg an Zweifel an der „einen großen Erzählung“ gibt, vor allem an der Dominanz der europäischen Musikgeschichte. Viele Beiträge versuchen, die lange getrennten Traditionen der historischen Musikwissenschaft und der Ethnomusikologie zusammenzudenken. So zeigt etwa die Berner Musikwissenschaftlerin Britta Sweers, dass es im Laufe der Menschheitsgeschichte etliche musikalische Globalisierungsprozesse gab, von der Vor- und Frühgeschichte angefangen. Das ist gerade in diesen Zeiten von Identitätsangst eine Perspektive, die man sich unbedingt musikdidaktisch weitergedacht wünscht.

Christopher Flamm findet – vermutlich zu Recht –, die musikgeschichtliche Wissensvermittlung im Schulunterricht sei inzwischen auf ein Minimum geschrumpft. Die deutschsprachige Musikwissenschaft verweigere sich aber der Verantwortung, wenigs-tens im Studium für Überblickswissen zu sorgen. „Die Vorstellung, die Struktur des dtv-Atlas einer Fundamentalkritik zu unterwerfen, erscheint (...) mehr getragen vom Wunsch, das eigene Studiengangsprofil zeitgemäß zu schärfen, als von der Sorge um die Grundbedürfnisse wissenshungriger junger Menschen.“ Sein sympathisches Schlussvotum lautet: Dass jeder Gesamtüberblick perspektivisch verengt und angreifbar sei, müsse man sich mit gelassener Selbstironie eingestehen.

  • Musikpädagogik der Musikgeschichte. Schnittstellen und Wechselverhältnisse zwischen Historischer Musikwissenschaft und Musikpädagogik, hrsg. v. Lars Oberhaus/Melanie Unseld, Waxmann Verlag, Münster 2016, 228  Seiten, € 34,90,  ISBN 978-3-8309-3181-2
  • Musikhistoriographie(n). Bericht über die Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft. Wien 21.–23. November 2013, hrsg. v. Michele Calella/Nikolaus Urbanek, Wien, Hollitzer Verlag 2015, 279 S., € 29,90, ISBN 978-3-99012-240-2

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