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David Ewen: George Gershwin. Vom Erfolg zur Größe, Hannibal-Verlag, St. Andrä-Wörden 1998, 353 Seiten, 49,80 Mark
Zum 100. Geburtstag George Gersh-wins ist eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe von David Ewens klassischer Monographie erschienen. 1943 erstmals auf dem Markt, hat die deutschsprachige Ausgabe von 1955 einigen Wirbel verursacht, worauf das neu verfasste Vorwort nicht eingeht. Im damaligen Vorwort widerrief Friedrich Gulda praktisch den gesamten Inhalt. Freilich wurde seine einseitige Einschätzung dem Werk Gershwins ebensowenig gerecht wie Ewens mitunter gewagte Thesen. Gershwin wollte niemals nur Improvisationsgrundlagen für Jazzmusiker liefern. Die Neuauflage verschweigt leider besagte Problematik. Sie versucht in Ansätzen verschiedene Gesichtspunkte von Gershwins Werk zu erfassen, für den unbefangenen Leser nicht immer stringent und einsichtig. Ewen, der in den USA als profunder Gershwin-Kenner gilt, gefällt sich zu sehr im Aneinanderreihen von Daten, Fakten und Ereignissen, ohne den großen Bogen zu wertenden Befunden zu spannen. Während Gershwins Einzug in die Welt der Musicals langatmig und allzu detailreich geschildert wird, vermittelt das Kapitel über Manhattans Schlagerindustrie in der Tin Pan Alley wichtige Einblicke in das Produktionsmilieu der Musikverlage New Yorks. Daß Gersh-win den Klang populärer Musik mitbestimmte, ist bekannt. Weniger, daß er mit Beginn der 30er Jahre auch einen gesellschaftskritischen Ton anschlug („Strike up the bend“, „Of Thee I sing“). Gershwin gilt als Schöpfer der modernen amerikanischen Volksoper. Ausführlich wird „Porgy und Bess“ gewürdigt, wie überhaut Analysen von Musikstücken einen breiten Raum einnehmen. Hier erweist sich Ewen wirklich als Kenner. Als interessanter noch als der Inhalt der großen Volksoper erweist sich die Entstehungsgeschichte, hier dokumentiert in längeren Briefwechseln zwischem dem Komponisten und dem in den Südstaaten lebenden Verfasser des Librettos DuBose Heyward. Gershwins Reise nach Charleston, dem Ort der Handlung, wird als eine Art Feldforschung beschrieben. Gershwins Biographie gewinnt neue Akzente. In kleinbürgerlichem Milieu, aber wohlbehütet aufgewachsen – das Klischee von der armen Herkunft wird gleich korrigiert, später auch das Bild vom charmanten Frauenhelden – hört Gershwin Jazz als Kind auf der Straße. „Die rauhen Klänge und heißen Rhythmen beeindruckten ihn so sehr, daß er sie nie wieder vergaß“. Daher seine Vorliebe für Rags, Blues und Spirituals und der Glaube an die Bedeutung und künstlerische Entwicklungsfähigkeit volkstümlicher Musik. Verfehlt wäre es, wie Ewen es tut, Gershwin als großen Jazzkomponisten hinzustellen, denn er absorbierte ziemlich alles, was ihn akustisch umgab. Mit Bruder Ira, der Texte schrieb, „bildete Gershwin früh ein unverbrüchliches Team“. Das Kapitel über die Zusammenarbeit der Brüder ist mit am besten. Akribisch schildert der Autor die Vorgehensweise, erklärt, wie Texte von Gemeinplätzen und Stereotypen befreit werden. Daß Gershwin geläufige Songformen durchbrach, sich über die Teilung in E- und U-Musik hinwegsetzte, Blues- und Liedstrukturen verband, Jazz-Breaks in seine Stücke einsetzte, all das hätte mehr herausgearbeitet werden können. Auch die Bedeutung und Folgen der Tatsache, daß Gershwins Verständnis von Jazz mit den Exotismen anderer Komponisten der frühen Moderne wenig gemein hatte. Gershwins Wirkungsgeschichte hingegen ist hervorragend aufbereitet. Man erfährt über die Rezeption seiner Musik in Russland und Nazi-Deutschland. Die intensivste Repertoire-Pflege allerdings findet im Jazz statt, ein Umstand, der dem Autor offensichtlich entgangen ist.