Es gibt zumindest drei Musiktheaterwerke, die wie Monolithen aus den Freuden des Schöngesangs aufragen: Alban Bergs „Wozzeck“ und „Lulu“ sowie Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“. Da wird den Mühseligen und Beladenen ein künstlerisches Denkmal gesetzt, da sollte der Zuschauer am Ende aufstehen und die Verhältnisse ändern wollen. Seit den Bregenzer Sommerfestspielen 2010 kommt ein vierter Monolith hinzu: Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ – eine bühnenwirksame Oper, die tatsächlich den Holocaust und seine Nachwirkungen so künstlerisch hochklassig thematisiert, dass alle möglichen Peinlichkeiten unterbleiben. Mit dieser späten Entdeckung, Konzerten und einem Symposium etablierte Bregenz den Komponisten im Musikleben (siehe auch Seite 3).
Nun endlich ein gewichtiger Band, doch die Lese- und Studierfreude ist nicht ungetrübt: In den 442 Textseiten werden die Historie und Leistung der Bregenzer Festspiele und ihres Intendanten David Pountney viel zu wenig gewürdigt; schon ein Gespräch mit Pountney hätte da etliche Leerstellen getilgt; die preisgekrönte DVD wird nicht erwähnt. Auch drei wesentliche Bühnenwerke werden befremdlicher- weise nicht behandelt und analysiert: „Lady Magnesia“(op. 112, 1975, nach George Bernard Shaw), „Das Porträt“ (op. 128, 1980, nach N. Gogol, auch 2010 in Bregenz zu erleben) und insbesondere der nach der Mannheimer Uraufführung 2013 hochgelobte „Der Idiot“ (op. 144, 1985, nach F. Dostojewski). Dann findet sich in dem sachlich gut formulierten Text mehrfach die Autorin selbst mit „Ich“ und „Meine“ – gehört so etwas nicht höchstens in die Fußnoten?
Doch ansonsten bietet der Eröffnungsband der Reihe „Musik und Diktatur“ allein schon auf 73 Seiten Anhang viel Gehaltvolles und Detailliertes zu Mieczyslaw Weinberg bis ins Jahr 2016. Die Frage nach „indoktrinierter Musik“ löst sich auf angesichts der Breite und Eigenwilligkeit des Gesamtwerkes – im Gegensatz zu einem indoktrinierten Leben. Vieles zu dem lange Unterschätzten, ja Unbekannten wird erhellt – mit etlichen Parallelen zu seinem Freund, Beschützer und Förderer Schostakowitsch.
Selbst der interessierte Musikfreund bis hin zum Kenner wird in dem behandelten Œuvre Unbekanntes und Erstaunliches finden: 22 Symphonien, viele Orchesterwerke und Kammerkonzerte, 17 Streichquartette, zahlreiche Lieder, Filmmusiken und kleinere Stücke – etliche davon werden samt Quellen analysiert, doch mit weit mehr interessanten Werken wäre fast ein zweiter Band zu schreiben und zu füllen. Notenbeispiele und Reproduktionen von zentralen Dokumenten ergänzen den Text, der die westeuropäische Sprachhürde zu Polnisch und Russisch deutlich abbaut: Oft werden vertonte Texte im Original und in deutscher, teils auch in englischer Übersetzung angeführt.
Mit all dem eröffnet sich der Blick auf ein vielfältiges Künstlerschicksal, in dem sich die meisten Wirren, Bedrohungen und Entsetzlichkeiten des 20. Jahrhunderts wiederfinden. Denn das Leben des polnischen Juden Weinberg ist zunächst vom mörderischen Nationalsozialismus bedroht: Eltern und Schwester werden ermordet; nach Weinbergs alleiniger Flucht 1941 lebt er bis zu seinem Tod 1996 unter dem real lebensbedrohlichen Stalinismus und durchgängig umgeben vom russischen Antisemitismus – aus Dankbarkeit für sein Überleben aber dennoch nicht nach Polen zurückkehrend. Der westliche Leser erfährt von den unglaublich hinterhältigen Winkelzügen und miserablen Verboten der Zensur, der Ausflucht Weinbergs in Zirkus- und Filmmusiken – trotz Unterstützung durch Schostakowitsch oder Stars wie das Ehepaar Wischnewskaja-Rostropowitsch. Inzwischen sind Weinbergs vielfältige Werke zunehmend auf CD und DVD greifbar, tauchen in Konzertprogrammen auf. Die posthume Gerechtigkeit der Kunst gewinnt gegenüber dem Schlachthaus der Geschichte – wozu auch dieser Band beiträgt.
- Verena Mogl: „Juden, die ins Lied sich retten“ – der Komponist Mieczysław Weinberg (1919–1996) in der Sowjetunion (Musik und Diktatur, Bd. 1), Waxmann Verlag, Münster/New York 2017, 444 S., € 39,90, ISBN 978-3-8309-3137-9