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„Ich schlage vor, Dummheit in der Musik überhaupt zu bekämpfen. Glauben Sie mir, das ist das Wichtigste für mich.“ Dieses Credo Hanns Eislers könnte auch als Motto über dem folgenden Stundenentwurf von Volker Mall zum Thema „Horst-Wessel-Lied und Kälbermarsch“ stehen. Der Stundenentwurf scheint der nmz-Redaktion exemplarisch für einen fächerübergreifenden Musikunterricht zu stehen, wie er – entsprechend modifiziert – sicher an allen Schultypen stattfinden könnte.Horst Wessel, geboren 1907, wurde 1926 Mitglied der NSDAP, nachdem er als Schüler und Student gescheitert war und sich mit der Familie (sein Vater war Pfarrer) überworfen hatte. Er war Führer des SA-Sturms in Berlin-Friedrichshain. „Politik und Studium gab er auf, als er sich in eine Prostituierte verliebte und mit ihr eine gemeinsame Wohnung bezog. Dort spürte ihn der aus der Haft entlassene Zuhälter Ali Höhler mit Hilfe einiger Genossen aus dem Rotfrontkämpferbund am 14.1.1930 auf und schoß ihm in den Mund. Berlins Gauleiter Goebbels machte aus dem Eifersuchtsdrama einen Anschlag der „Kommune“ und berichtete im „Angriff“ täglich über das Befinden des Verwundeten.“1 Die NSDAP machte ihn neben den Toten des Hitlerputsches vom 9. November 1923 zum „Blutzeugen der Bewegung“. Das von Wessel 1927 für die Berliner SA geschriebene Lied wurde erstmals 1929 im „Angriff“ veröffentlicht und am 1.3.1930 auf der ersten Seite des „Völkischen Beobachters“ abgedruckt (als „Horst Wessels Gruß an das kommende Deutschland“). 1930 wurde es offizielle Parteihymne. Nach der „Machtergreifung“ wurde es bei Parteiveranstaltungen üblich, die erste Strophe an das Deutschlandlied anzuhängen. Reichsinnenminister Frick erklärte das am 12.7.1933 zur Norm. Hitler lehnte allerdings die offizielle „Erhebung“ zur Nationalhymne ab.
Zur Melodie
Horst Wessel hat seinen Text zu einer vorhandenen Melodie geschrieben, von der schon 1936 der Musikschriftsteller Alfred Weidemann festgestellt hatte, daß sie fast ganz identisch ist mit einem Leierkastenlied aus dem 19. Jahrhundert, das Peter Cornelius – wie er am 24. Juni 1865 seiner Braut mitteilte – in Berlin gehört hatte.2 Auf diese Melodie wurde das „Königsberg-Lied“ (1918 auf die Auslieferung des Kreuzers „Königsberg“ an die Alliierten gedichtet) von der Brigade Ehrhardt und im Wiking-Bund gesungen, dessen Mitglied Wessel war. Die ersten sechs Takte ähneln außerdem der Melodie des Liedes vom Wildschütz Jennerwein „Ein stolzer Schütz in seinen schönsten Jahren.“
Zum Text
Es kann diskutiert werden, ob Jens nicht die Möglichkeiten „aufklärerisch gehandhabter Grammatik“ überschätzt: „Wenn wir, ich schätze, anfangs mit Inbrunst, das Horst-Wessel-Lied sangen, dann ließ er uns aussingen und – den Text analysieren. Elfjährige Hamburger Schüler bei der Exegese der für heilig erklärten Hymne – ich werde den Tag nie vergessen, an dem unser Klassenlehrer den Satz „Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier’n im Geist in unsern Reihen mit“ grammatikalisch erledigte, indem er die Frage stellte, wer hier eigentlich wen erschossen habe, Rotfront die Kameraden oder, was eher anzunehmen sei, die Kameraden die Rotfront. Er, Sprachmeister Fritz, verstünde den Artikel „die“ als Nominativ, Horst Wessel hingegen als Akkusativ – da möchten doch, bitte sehr, wir selber entscheiden, wer hier im Recht sei. Gestorben, ein für allemal, die Hymne – als Machwerk erledigt mit Hilfe der aufklärerisch gehandhabten Grammatik!“4
Kälbermarsch
Brecht/Eisler „Kälbermarsch“ (Text, Noten, Tonbeispiel)5: Brecht hat seine Parodie auf das Horst-Wessel-Lied im Exil in Paris im September 1933 geschrieben (so Eisler 1972 zu Hans Bunge) und später in sein 1941-1944 entstandenes Theaterstück „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ übernommen, das er am 24. Juni 1943 beendete.6 Eisler hat es 1942 in Hollywood im Hinblick auf eine mögliche Aufführung in New York komponiert. Als sich diese Hoffnung zerschlug, stellte er seine Arbeit an den weiteren Liedern ein. Anzunehmen ist, daß der „Kälbermarsch“, wie andere Gedichte von Brecht („Deutsches Lied 1937“, das „Deutsche Miserere“, „Lied einer deutschen Mutter“, „In Sturmesnacht“, „Und was bekam des Soldaten Weib?“) auch für antifaschistische Radiosendungen vorgesehen war.
Aus dem Arbeitsbuch von Brecht: 9.6.1943 beende den ersten akt des Schweyk... eisler hat sehr schön „in sturmes nacht“, „deutsches miserere“ und „der kälbermarsch“ vertont; 24.6. 1943 im großen den Schweyk beendet 18.9.43 eisler ist sofort bereit, die musik zu machen, einen teil hat er schon, weil er den Kälbermarsch und das „Deutsche Miserere“ schon komponiert hat – für platten.
„Ein halbes Jahr vor seinem Tod begann Brecht, an eine Aufführung des „Schweyk“ durch das Berliner Ensemble zu denken und beauftragte Hanns Eisler, die Kompositionsarbeiten wieder aufzunehmen und zu Ende zu führen. Der frühe Tod von Bert Brecht am 14.8.1956 vereitelte die endgültige Fertigstellung der Musik. Dies geschah vielmehr im Zusammenhang mit der Warschauer Uraufführung im Jahre 1957. Für die westdeutsche Erstaufführung in Frankfurt7 hat Hanns Eisler sodann noch vier Intermezzi für großes Orchester neu komponiert und damit seine Arbeit endgültig abgeschlossen. Die Entstehungsgeschichte der Musik zum „Schweyk“ führt also über 16 Jahre durch die Hotelzimmer von Hollywood, Berlin, Warschau und Frankfurt.“8
Mögliche Arbeitsaufträge
Wie parodiert Brecht den Text, welche Bilder benützt er? Wie vertont Eisler die Strophe (Melodie), den Refrain (Dynamik, Schluß)? Was fällt bei der Klavierbegleitung auf? (Eisler wollte den Klang eines mechanischen Klaviers, eines Pianolas nachahmen). Zur Entstehungsgeschichte: In Brechts Stück singt Schweyk den „Kälbermarsch“ im Prager Militärgefängnis, wo er mit anderen tschechischen Häftlingen auf die Musterung wartet, – quasi als Prototyp des Parodieverfahrens – begleitet von einer Militärkapelle, die draußen das Horst-Wessel-Lied spielt und zwar den Refrain zur Melodie dieser Kapelle, die Vorstrophen zum Trommeln dazwischen. Tatsächlich hat Eisler eine Klavierbegleitung geschrieben, die wie die anderen Lieder im Stück von einem (fiktiven) alten mechanischen Klavier gespielt werden soll, das im Wirtshaus „Zum Kelch“ steht. Der Refrain parodiert Text und Melodie. Vom Text übernimmt Brecht: „fest geschlossen, marschiert mit ruhig festem Schritt, marschiern im Geist in... Reihen mit.“
Text: „Die Strophen dienen der Beschreibung des Kälberaufzugs und der Kommentierung. Dadurch erhält jede Strophe eine eigenartige Doppelfunktion: die beiden ersten Zeilen geben bildhafte Ausschnitte eines Vorgangs, die beiden Folgezeilen enthüllen, welches Los der Metzger den Kälbern zugedacht hat. Den drei Aufzugsbeschreibungen (a) folgen jeweils die enthüllenden Kommentare (b). So entsteht die folgende Strophenstruktur: Hinter der Trommel her/Trotten die Kälber (a). Das Fell für die Trommel/Liefern sie selber (b). Sie heben die Hände hoch/Sie zeigen sie her (a). Sie sind schon blutbefleckt/Und sind noch leer (b). Sie tragen ein Kreuz voran/Auf blutroter Flaggen... (a). Das hat für den armen Mann/Einen großen Haken (b).
Die Kommentarverse schließen jeweils unmittelbar an die Beschreibung an und beziehen sich stets auf das beschriebene Bild: das Trommelfell auf die Trommel, die blutbefleckten auf die erhobenen Hände, der Haken auf das Kreuz. Solche Pointen gelingen, weil Brecht im ersten Strophenteil besonders charakteristische Erscheinungen eines faschistischen Aufmarsches festhält: die Hakenkreuzfahne, die zum Hitlergruß erhobenen Arme (Hände) und die Trommeln an der Spitze des Zuges.“9 Hauptrequisit des NS-Kults war die Fahne10; daneben gab es die „geläufige Vorstellung vom Führer als dem Trommler, der das deutsche Volk in Reih und Glied zwingt...“ (Ernst Loewy). So beginnt „Der Führer“ (1934) von Herbert Böhme, vertont von Heyden und Erich Lauer so: Eine Trommel geht in Deutschland um / und der sie schlägt, der führt, / und die ihm folgen, folgen stumm, / sie sind von ihm gekürt. Sie schwören ihm den Fahnenschwur ...
Musik: Eislers für zwei Klaviere geschriebene Begleitung ist im Notenbeispiel auf ein Klavier reduziert. Um den erwünschten Pianolaklang zu bekommen, kann man beispielsweise auf dem Synthesizer mit einem Cembalo-Sound spielen und das mit einem Klavier verdoppeln. Die Strophe beginnt in F-Dur. Die Gesangstimme hat in den vielen Synkopen quasi einen falschen Marschrhythmus, der durch die etwas schräg klingenden sequenzierten Sprünge (Takt 6 f.) noch auffälliger wird. Der Refrain steht in C-Dur. Die Melodie wird etwas abgewandelt, wobei hier der „falsche“ Schluß auffällt – statt zum c geht es zum Leitton h, der dann auch noch chromatisch abwärts geht. In der Begleitung entsteht durch den komplementären Wechsel „Achtel-zwei Viertel“ ein durchgehender Sechzehntelrhythmus, der wohl eine kleine Trommel imitieren soll. Harmonisch fallen der übermäßige Dreiklang (Takt 13) – dadurch geht die Mittelstimme von g chromatisch aufwärts – und C7 (Takt 16) auf; der unisono-Schluß in chromatisch abwärts gehenden Vierteln im Forte klingt wie ein höhnischer Kommentar. Er erklingt nach der dritten Strophe im dreifachen Piano und endet abrupt auf dem tiefen A.
Anmerkungen
1 Friedemann Bedürftig (Hrsg.), Lexikon Drittes Reich, München 1997
2 Alfred Weidemann, Ein Vorläufer des Horst-Wessel-Liedes? in: Die Musik, September 1936, S. 911 f.
3 Müller-Blattau, Das Horst-Wessel-Lied, in: Die Musik 26, 1933/34 S. 327
4 Walter Jens, Mein Lehrer Ernst Fritz, in: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.), Meine Schulzeit im Dritten Reich, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1988, S. 110
5 Text: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt 1967, Stöcke 5, S. 1976. Noten: Hanns Eislers Bühnenmusik zum Schweyk, in: Lieder und Kantaten Band 8, (Deutsche Akademie der Künste, Sektion Musik), Leipzig und Berlin 1964, S. 82 f. Tonbeispiel: Bertolt Brecht, Lieder und Balladen, nomos 88.10.103; außerdem seit kurzem (wieder) auf der CD „Brecht, Werke, eine Auswahl“ (Amiga/Bertelsmann 74321501942). Eisler selbst singt den „Kälbermarsch“ auf: “Hanns Eisler, Dokumente“ (Berlin Classics 0090582BC)
6 Hans Bunge, Fragen Sie mehr über Brecht, München 1972, S. 72. Dagegen behauptet Albrecht Schöne: „verfaßt 1942.“ in: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert 2’, Göttingen 1969, S. 4
7 Auch um diese Aufführung im Mai 1959 unter Harry Buckwitz gab es erregte Debatten. Die Auseinandersetzung um Brecht in der BRD hatte im Mai 1957 einen ihrer Höhepunkte gefunden, als Bundesaußenminister Heinrich von Brentano den Zuschuß für ein deutsches Brecht-Gastspiel in Paris mit der Bemerkung ablehnte, Brechts späte Lyrik sei „nur noch mit Horst Wessel zu vergleichen.“
8 Aus dem Programmheft „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ des Berliner Ensembles/Theater am Schiffbauerdamm 1962/63 (Premiere am 31.12.62, 250. Aufführung am 4.5.68)
9 Klaus Schuhmann, Der Lyriker Bertolt Brecht 2’, München 1974, S. 364
10 vgl. dazu Hans Jochen Gamm, Der braune Kult, Hamburg 1962, S. 43