Die Donaueschinger Musiktage gelten als das älteste und traditionsreichste Festival für Neue Musik weltweit: 1921 gegründet, stehen sie bis heute für alle neuen und experimentellen Formen auf dem Gebiet aktueller Musik und der Klangkunst. Bis zu 10.000 Besucherinnen und Besucher strömen Jahr für Jahr auf das Festival. Andreas Kolb unterhielt sich mit dem künstlerischen Leiter der Donaueschinger Musiktage, Björn Gottstein, über das 99. Jahr der Musiktage und auch über seine Pläne für die kommende einhundertste Ausgabe 2021. Es wird die letzte unter der Leitung von Gottstein sein, der zum 1. Januar 2022 Sekretär des Kuratoriums der Ernst von Siemens Musikstiftung wird. Lesen Sie im Folgenden Auszüge aus dem Gespräch, das auf www.nmzmedia.de in voller Länge anzusehen ist.
neue musikzeitung: 2020 regiert die COVID-19-Pandemie massiv in das Festivalprogramm hinein. Müssen wir befürchten, dass die Donaueschinger Musiktage ins Digitale abwandern?
Björn Gottstein: Das Digitale ist natürlich ein Ausspielweg für uns. Ein Verbreitungsweg, den wir schon immer benutzt haben und auch in diesem Jahr so extensiv wie möglich nutzen werden. Klar ist aber auch, dass das Donaueschinger Festival ein Betrieb ist, der von den Live-Veranstaltungen vor Ort lebt. Klang hat eine Aura, die man spürt, wenn man im gleichen Raum mit dem Klang anwesend ist. Diese Aura herzustellen, ist etwas, das wir uns in Donaueschingen sehr wünschen.
nmz: Was können Sie zum Programm 2020 schon sagen?
Gottstein: Wir werden auf jeden Fall ein junges polnisches Ensemble haben, das Ensemble Kwadrofonik aus Warschau: zwei Klaviere, zwei Schlagzeuge, Elektronik. Wir werden das Ensemble Manufaktur aktuelle Musik aus Frankfurt, das Ensemble Musikfabrik aus Köln haben. Ich hatte in diesem Jahr einen Co-Kurator, den Musiker Ekkehard Ehlers. Er kommt aus dem Bereich experimentelle Elektronik, hat lange mitgewirkt beim Label „Mille Plateaux“ in Frankfurt, das die Anfänge des Diskurs-Techno mitprägte. Ehlers ist jemand, der ein großes Faible hat für Neue Musik, die Avantgarde und auch einen unglaublichen Respekt für die Partitur als, wie er sagt, „Schwert und Waffe der Künstler“. Wir haben in diesem Jahr zwei Richtungen, die das Programm einschlägt, die beide auf den Co-Kurator zurückzuführen sind und die eigentlich sehr widersprüchlich sind. Das eine sind vergessene alte Meister, zum Beispiel haben wir einen Auftrag vergeben an Alexander Goehr, einen englischen Komponisten, der etwas in Vergessenheit geraten ist seit seiner Zeit als Teil der legendären Manchester-Group. Nigel Osborne schreibt ein Stück für uns. Die andere Richtung geht in Richtung Popkultur. Eine Einladung ging an Diedrich Diederichsen, einer der großen Musiktheoretiker in Deutschland und Mitbegründer der Zeitschrift Spex. Er ist Teil eines Stückes von Peter Ablinger, bei dem im Zentrum zwei Musikwissenschaftler stehen, die über das diskutieren, was sie hören: über Vivaldi, über die Konzertsituation. Der eine von den beiden ist eben Diedrich Diederichsen und ihm zur Seite steht dann Theresa Beyer, eine junge schweizerische Kollegin und Musikwissenschaftlerin, die erst 2017 Schulz-Preisträgerin wurde.
nmz: Wie würden Sie den thematischen Schwerpunkt für 2020 beschreiben?
Gottstein: Ich setze kein Thema. Ich gebe den Komponisten auch kein Thema vor. Je mehr ich über das diesjährige Festival nachdenke, umso klarer wird mir, dass bestimmte Aspekte, die ich gerade schon angedeutet habe, für mich sehr signifikant sind. Nämlich, wo kommen die Künstler her, welche Generation haben die, was für einen Hintergrund haben die? Ich finde das zum Beispiel sehr angenehm zu spüren, dass der weiße-europäische Mann, nicht mehr der alleinige Protagonist in Donaueschingen ist. Dass wir mit Elaine Mitchener eine Solistin haben, deren Eltern in Jamaica geboren sind, die in England aufgewachsen ist. Dass wir mit Laure Hiendl eine Komponistin haben, die ihr Geschlecht umgewandelt hat, die früher Martin Hiendl hieß. Dass wir mit Sasha Blondeau einen Komponisten haben, der früher eine Frau gewesen ist, nämlich Julia Blondeau. Also, dass sozusagen die Geschlechtervarietäten sich auflösen, dass wir jetzt drei Geschlechter haben. Wir haben mit Matana Roberts und George Lewis zwei schwarze Amerikaner im Programm als Komponisten. Ich muss sagen, das sind Aspekte, die mich persönlich mit sehr viel Freude erfüllen, zu sehen, wie selbstverständlich diese Öffnung auch in der Neuen Musik stattfinden kann.
nmz: Es ist vieles im Fluss in Donaueschingen. Seit 2016 hat man ja auch ein neues Symphonieorchester, das SWR-Symphonieorchester. Ist das angekommen in der Gegenwartsmusik?
Gottstein: Ja, es ist in der Gegenwartsmusik angekommen. Natürlich war das ein schwieriger Prozess für alle Beteiligten, zu einem neuen Klangkörper zu werden. Sicherlich hat auch der neue Chefdirigent Teodor Currentzis positiv daran mitgewirkt. Das SWR Orchester kommt nach Donaueschingen, Teodor Currentzis nicht.
nmz: Wer schreibt das Stück fürs Orchester oder welche Komponist*innen? Und hat Herr Currentzis da auch mitgewirkt?
Gottstein: Das ist ja nichts Ungewöhnliches, dass Programme im Gespräch entstehen. So gab es natürlich auch mit Teodor Currentzis Gespräche über das Konzertprogramm. Und es ist eigentlich ein sehr schönes Programm geworden. Es gab auch einen Vorschlag von Currentzis, auf den ich mich eingelassen habe, das war Alexej Sioumak aus Moskau, obwohl er mir vorher nicht in dem Maße geläufig war. Weiter schreibt Mica Levi für das SWR Orchester. Mica Levi war mal für einen Oscar als Filmmusikkomponistin nominiert und hat für zahlreiche Hollywood-Filme Musik geschrieben. Sie hat eine unglaublich feine Farbe in der Orchesterbehandlung und schreibt – da sie aus dem Filmmetier stammt – natürlich sehr stimmungsvoll.
nmz: Was haben Sie 2021 zum 100-jährigen Jubiläum der Donaueschinger Musiktage vor?
Gottstein: Es ist eigentlich unmöglich, 100 Jahre Donaueschingen zu feiern, denn es ist ein Widerspruch in sich. Wenn man programmatisch stets in die Zukunft schaut, wie will man da gleichzeitig zurückschauen. Dennoch, die Projekte, die wir haben, zeigen in beide Richtungen, es ist eine Art janusköpfiges Festival geworden. Wir haben zum einen ein Forschungsprojekt, das Neue Musik aus dem globalen Süden betrifft. Da gibt es vier Researcher, die in Regionen reisen, von denen wir nicht so genau wissen, ob es da Neue Musik ähnliche Sachen gibt, die keine Hochschulen haben, die keine Ensembles für Neue Musik haben und trotzdem aber vielleicht musikalisch experimentieren. Wir ermöglichen zusammen mit dem Lucerne Festival die Wiederaufführung eines Werkes wie „Poésie pour pouvoir“ von Boulez in Donaueschingen. Wir konzipieren eine Ausstellung, die auf das Gewesene und auch auf das Nicht-Gewesene schaut. Es macht eine unglaubliche Freude, diesen doppelten Blick zu gestalten. 2021 ist das einzige Jahr, in dem ich den Komponisten doch ein Thema an die Hand gegeben habe: nämlich das Unfertige, den Torso, das Bruchstück, das Essay und nicht die Vollendung und das Meisterwerk.