Seit die Süddeutsche Zeitung im Spätherbst aus Münchens Zentrum an den Stadtrand gezogen ist, leben die bayrischen Hauptstädter gesünder: Kritikerpapst Joachim Kaiser prescht nicht mehr mit dem Fahrrad in die Sendlinger Straße. Doch an Staatsoper, Residenz und Gasteig sollte man weiterhin aufpassen. Kritikerpapst? In einem Gespräch zu seinem 80. Geburtstag, den der in Ostpreußen geborene Kaiser morgen begeht, erklärt er Michael Ernst, was er von derartigen Zuweisungen hält.
Michel Ernst: Der Titel Ihrer von Tochter Henriette verfassten Biografie heißt schlicht und groß „Joachim Kaiser – Ich bin der letzte Mohikaner“. Wieviel Koketterie steckt dahinter?
Joachim Kaiser: Naja, das könnte vielleicht kokett wirken. Ich will mich damit aber nicht als letzten Edlen darstellen. Im „Lederstrumpf“ sind die Mohikaner ja die Rothäute, also eine aussterbende Rasse. Ich denk schon, dass ich auch so einer angehöre.
Gut möglich, dass dies nicht die beste Überschrift ist, aber wir haben keine bessere gefunden. Sie entstammt einer Ausstellung, die es in München über mich gibt. Stellen Sie sich vor, eine Ausstellung über einen Kritiker, das hätte ich nie für möglich gehalten! „Der letzte Mohikaner“ ist sicherlich viel besser als unser Arbeitstitel „Die Schreibmaschine“. So technisch-mechanisch bin ich doch nicht.
Es kursieren auch andere Namen. Als ich Sie einmal den Nestor der deutschen Musikkritik nannte, hab ich mich sehr in die Nesseln gesetzt.
Ach, der Nestor ist ja ein Zeichen für Homers und später auch Shakespeares Abgründigkeit. Der gilt als weise und macht Vorschläge, die sich später nicht bewähren. Alte Leute sind da überhaupt nicht sehr positiv dargestellt, denken Sie an Polonius. Das riecht immer schon nach der Grenze zur Senilität.
Was würden Sie gelten lassen: Enzyklopädist? Oder schlicht Phänomen?
Wenn Sie meine Bildungslücken kennen würden, käme niemand auf die Idee, mir diese freundschaftliche Bezeichnung zu verpassen. Ich denke einfach – und davon bin ich mein Leben lang ausgegangen –, dass ein halbwegs kultivierter Mensch eine Reihe von Texten und Musikstücken wirklich kennen sollte und analysiert haben muss. Dieser Spruch, dass Bildung da anfängt, wo wir alles Gelernte vergessen haben, der ist doch läppisch.
Und was das Phänomen betrifft, da müssten Sie andere fragen. Ich kenn mich vielleicht recht gut aus, aber ist das ein Kunststück, wenn man so viele Jahrzehnte im Betrieb ist? Vielleicht habe ich einfach nur Glück gehabt mit meinem musischen Elternhaus, das mir in Seele und Blutbahn eingeimpft hat, was uns Kunst und Kultur bedeuten. Das soll bitte nicht hochmütig klingen, denn sowas ist schwer zu ersetzen. Mit elf, zwölf Jahren hab ich alles an Kammermusik gespielt, was irgendwie wichtig war, neben Klavier durfte ich auch Cello und Klarinette lernen, wenngleich eine solide Ausbildung damals nicht möglich war. Meine Jugend im Krieg war ja eine entscheidend wichtige Zeit, wir sind immer irgendwo auf der Flucht gewesen, da ist so viel zerstört worden, ich konnte nie richtig üben.
Liegen dort die Grundlagen dafür, dass Sie als künstlerischer Kritiker gelten – oder als kritischer Künstler?
Der unglaubliche Vorteil meiner Generation ist, den 8. Mai 1945 als Moment einer ungeheuren Befreiung wahrgenommen zu haben und dann in einer Zeit Freiheit zu erleben, als man begriffen hatte, was Unfreiheit bedeutet. Spätestens nach Stalingrad hätte doch jedem klar sein müssen, was da schief läuft. Auch wenn diese Einsicht mit gewaltiger Angst verbunden war.
Ich hatte das riesige Glück, dass sich unsere Familie in Ostpreußen ausgemacht hat, wir treffen uns in Bad Kösen, wenn alles vorbei ist. Von dort stammt ein Teil der Familie aus einem protestantischen Pfarrhaus. Ich selbst bin 1936 zum letzten Mal dort gewesen, zum 100. Geburtstag einer Urgroßmutter. Und dann war das plötzlich amerikanisch besetzte Zone. Zwei Tage, bevor laut der Jalta-Verträge die Sowjets diese Region übernahmen, ist mein Vater mit einem Automobil vorgefahren und hat meine Mutter und mich dort abgeholt. Wir haben dann erst mal in Schleswig-Holstein gelebt. Zwei Tage! Ich hätte sonst eine völlig andere Sozialisation erlebt.
Als ich meinen Vater fragte, wie er denn in diesen Zeiten zu Benzin gekommen sei, denn das war auch für einen bisherigen Wehrmachtsarzt nicht selbstverständlich, hat er mir erklärt, dass gerade sehr viele Menschen mit so hässlichen Runen in der Haut zu ihm kämen. Dieses Doppel-S hat er ihnen dann gegen Benzin entfernt.
Tja, und für mich war damit plötzlich eine Welt offen. Ob konkret Sartres „Fliegen“ in der Inszenierung von Gründgens oder ganz allgemein der geänderte Tonfall, der Freiheit ja auch in der Sprache aufleben ließ – das weckte eine riesige Leidenschaft! Ich genoss das in vollen Zügen, nun nicht mehr nur fleischgewordene Fahnensprüche um mich zu haben. Heute klingt das vielleicht wie eine Phrase, doch damals war es ein riesiger Vorsprung unserer Generation, den wir natürlich nutzen, ja ausnutzen wollten.
In Ihren Publikationen und auch in der Biografie klingt durch, wie Ihnen diese „Liebe zur Sache“ am Herzen liegt. Ist so eine Haltung heute verkommen?
Ich will noch etwas weitergehen: Das Schreiben und die Vorträge, die ich ja nach wie vor halte, das ist für mich eine fast erotische Angelegenheit. Man muss die Musik und den Gegenstand, über den man referiert, wahrhaft lieben, bewundern und mögen. Bei mir ist es Leidenschaft.
Das ist heute gewiss nicht vergangen, aber Kunst hat allgemein einen viel geringeren Stellenwert, ist beliebiger geworden. Wirklich begründete Äußerungen zu ästhetischen Themen sind rar. Wie anders war das in den 50-er Jahren im Westen!
Sie sind damals Mitglied der Gruppe 47 gewesen ...
Die Gruppe 47 ist für mich sehr wichtig. Hans Werner Richter war ein Genie, der wusste genau, wer eingeladen werden musste. Seinen feldwebelhaften Ton haben wir ihm gern und heiter zugestanden, weil wir dachten, zwar ein bissel besser schreiben zu können als er, aber zugleich wussten, das Ereignishafte der Wahrheitsfindung oft ihm zu verdanken. Da sind Menschen zusammengekommen, die vom Zusammenbruch der deutschen Sprache geprägt waren, Kritiker gerieten mit Künstlern in Tuchfühlung – und was herauskam, war keine Befangenheit, sondern gnadenlose Kritik. Das ist bis heute einmalig. Mit den gegenseitigen Selbstbeweihräucherungen in diversen Akademien, von denen ich heute ja auch einigen angehöre, nicht zu vergleichen.
Als höchst kränkende Beigabe ist uns der Vorwurf des Antisemitismus gemacht worden, weil die zurückkehrenden Juden nicht allesamt eingeladen worden sind. Da fühlte ich uns verkannt und versuchte zu erklären, dass die großen Autoren der 20-er Jahre ja auch nicht aufgenommen werden, weil es hier um die Jüngeren geht. Mit Fried und Hildesheimer hatten wir schließlich auch jüdische Autoren einer jüngeren Generation dabei.
Zugrundegegangen ist das Ganze dann aber doch am Altern, weil das Analysieren jüngerer Texte nicht mehr so sicher erfolgte.
Dort kamen sicherlich unvergessliche Begegnungen zustande. Wer ist Ihnen auf musikalischem Gebiet unvergesslich?
Es gibt da die drei Interpreten, die ich als Genies sehe: Wilhelm Furtwängler, Arthur Rubinstein und Leonard Bernstein. Der heute ganz schändlich unterschätzte Herbert von Karajan war sicherlich auch genialisch, aber auf anderer Ebene.
Mit all denen verbindet mich ein jahrzehntelanges Miteinander ...
... Und einer beendet just am 18. Dezember, zu Ihrem Achtzigsten, seine Karriere: Alfred Brendel.
Den kannte ich schon als jungen Mann. Er zählt für mich zu einem der ganz seltenen Beispiele der interpretatorischen Welt, wo jemand sein Niveau nicht einfach beibehält, sondern kontinuierlich verändert. Ursprünglich war Brendel ein sehr guter Pianist. Aber dann muss er in den frühen 60-er Jahren ein spirituelles Erweckungserlebnis gehabt haben, seitdem ist er viel, viel tiefsinniger, ein großer Interpret.
Als „wilder Philosoph am Klavier“ beschrieb ich ihn mal. Obwohl Pollini oder Gulda technisch womöglich perfekter und ihm überlegen waren, bleiben seine Interpretationen, etwa die Überleitungen in der Waldstein-Sonate, bis heute unerreicht.
Das kalendarische Aufeinandertreffen bedeutet Ihnen nichts?
Na, ich kann mich nicht um alles kümmern, was mit meinem Geburtstag zusammenhängt. Am 18. Dezember 1928 hat beispielsweise Furtwängler Schönbergs Orchestervariationen uraufgeführt. Das sind Daten, Termine.
Kürzlich, im Sommer 2008, haben Sie Andy Warhol interviewt – und damit eine Reihe imaginärer Gespräche fortgesetzt, die in den 1990-er Jahren im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschienen. Wie fühlt es sich an, mit einem Gleichaltrigen zu reden, den Sie längst überlebt haben?
Als künstlerische Aufgabe war das ganz spannend. Jemandem, der einem ganz fremd ist, näherzukommen, und dann zu spüren, wie sich das alles zu einem Geflecht fügt ...
Auf die imaginären Interviews bin ich recht stolz, denn sie zeigen uns auch heute, wie gegenwärtig das damals Gesagte doch ist. Richtig modern!
Der musikalischen Moderne haben Sie sich bewusst verschlossen?
Ach, ich war mit Ligeti ganz gut befreundet, hab auch den Riehm besprochen. Aber so, wie ich in der Literatur ausgesprochen für das Fortschrittliche und Zeitgenössische einstand, so bin ich in der Musik recht konservativ. Ich glaube, dass es sehr schwer ist, über das hinauszukommen, was die große Musik von Monteverdi über Bach und Mozart bis hin zu Wagner mit den immergleichen zwölf Tönen geschafft hat.
Allerdings habe ich mir mein Studium damit verdient, dass ich Einführungen etwa zu Schönberg, Berg und Webern hielt. Im Alter muss mal halt auswählen und gegebenenfalls auf einer bestimmten Stufe bleiben, weil sich lächerlich macht, wer immer mit der Moderne gehen will. Ich weiß ja, wie lästig es sein kann, wenn ein Älterer immer Vergleiche heranziehen kann. Um heute Schuberts „Unvollendete“ zu genießen, die ich wohl zweihundertmal gehört habe, muss sie wirklich außerordentlich exzellent erklingen.
Um zum Achtzigsten auch nach vorn zu schauen: Welche Pläne haben Sie, welche Lektüre?
Erst einmal will ich versuchen, diesen Geburtstag zu überleben. All die damit verbundenen Würdigungen klingen ja oft so, als solle der Betreffende in aller Liebe umgebracht werden.
Aktuelle Pläne gibt es jetzt nicht, schließlich sind längst genug Bücher von mir am Markt. Wenn meine Tochter nicht all die Äußerungen notiert und gestaltet hätte, gäbe es auch keine Autobiografie.
Mit enormem Vergnügen lese ich „Vetter Pons“ von Balzac. Das ist ein wunderbarer Musikroman, ich wusste gar nicht, dass Balzac so viel von Musik verstand. Und parallel dazu die „Auferstehung“ von Tolstoi. Bringen Sie mich nicht ins Schwärmen! Dieses große Buch lese ich jetzt nach dreißig Jahren wieder und stelle fest, dass wir Deutschen den Größen jener Zeit – Tolstoi, Dostojewski, Tschaikowski – allenfalls Wagner entgegenzusetzen haben.
Zum Abschluss ein Rückblick: Denkt der Münchner noch an die Masuren?
Was ich in der damaligen Heimat erlebt habe, ist in einem Dokumentarfilm meiner Tochter recht eindrucksvoll wiedergegeben, die Kränkungen dieses Wiedersehens sind aber im Buch bestens beschrieben. Natürlich denke ich an Tilsit, werde aber so rasch nicht wieder hinfahren.
Buchtipp: Henriette Kaiser: „Joachim Kaiser – Ich bin der letzte Mohikaner“
Ullstein Verlag, München 2008
597 S., 24,90 Euro