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Matthias Kaul. Foto: de Vries
Matthias Kaul. Foto: de Vries
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Die gegenseitige Bereicherung von Kunst und Leben

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Zum Tod des ganzheitlichen Klangbastlers und Anregers Matthias Kaul
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„Wer jemals erlebt hat, mit welcher Ruhe und Gelassenheit, aber auch mit welch besessener Groß-Ohrigkeit er ein hängendes Becken mit einer elektrischen Zahnbürste bespielt, der wird fürderhin davon überzeugt sein, dass es die eigentliche Bestimmung der Zahnbürste ist, jenes Metallinstrument aufs Schönste zum Singen zu bringen.“ Mit diesem Satz eröffnete Gordon Kampe 2015 einen Essay, in dem er Matthias Kaul in gleichem Maße als versierten Interpreten wie als leidenschaftlichen Klangforscher und Komponisten würdigte – als Künstler, der sich mit den technischen oder ästhetischen Beschränkungen des traditionellen Instrumentariums nicht zufrieden geben wollte, sondern darauf bedacht war, dessen Möglichkeiten experimentell zu erkunden und um neue, bislang ungedachte Facetten zu bereichern. Folglich schuf Kaul – oftmals unter Rückgriff auf Alltagsgegenstände – zahlreiche skurrile Klangerzeuger, deren Bauanleitungen er ins Internet stellte, um damit den Weg zur weiterführenden Erkundung dieses Instrumentariums an die Allgemeinheit weiterzugeben.

Die Vorliebe für solche Unternehmungen kam nicht von ungefähr, machte der am 29. Januar 1949 in Hamburg geborene Kaul doch seit Beginn seiner Musikerlaufbahn als fantasievoller Improvisator auf sich aufmerksam, der die permanente Erweiterung seiner Ausdrucksmöglichkeiten zum Ziel seiner Tätigkeit erhob. Sein autodidaktischer Zugang zum Drumset im Alter von 17 Jahren, seine Mitwirkung als Schlagzeuger in Pop-, Rock-, Jazz- und Freejazz-Formationen oder Unterhaltungsmusik mögen stellvertretend für die lebenslang verfolgte Idee eines Lernens aus den Bedingungen der praktischen Erfahrung heraus stehen. Erst später, mit 21 Jahren, folgte dem eine grundlegende Schlagzeugausbildung bei Robert Hinze an der Hamburger Musikhochschule, die er zunächst mit einem Orchesterdiplom und anschließend mit dem Solistenexamen abschloss. 1983 gründete Kaul dann zusammen mit der Flötistin Astrid
Schmeling und dem Gitarristen Michael Schröder das Ensemble  L’ART POUR L’ART, das – mit mehr oder weniger starken Erweiterungen der Stammbesetzung – bis in jüngste Zeit die solide Basis für weit verzweigte künstlerische Aktivitäten bildete.

Über die Jahre hinweg brachte Kaul als Solist oder Ensemblemusiker nicht nur zahlreiche Werke zur Uraufführung, sondern ließ sich immer wieder Stücke förmlich auf den Leib schreiben, wodurch er zum  Impulsgeber für den erweiterten Umgang mit Perkussionsinstrumenten wurde. Zahlreiche CD-Veröffentlichungen geben über die Beschaffenheit solcher Anregungen, aber auch über die spezielle Art von Kauls musikalischer Begabung Aufschluss. Nicht nur die Auseinandersetzung mit Arbeiten Alvin Luciers, die Lektüre von Stücken John Cages oder die Befragung der Musik Vinko Globokars ist von einer Entdeckerfreude geprägt, die weit über das hinausgeht, was in den Partituren verankert ist; auch die eigenen Arbeiten zeugen immer wieder von unbändiger Lust am Abtasten von Klängen. Wie geschickt er seine Fähigkeiten einsetzte, um unterschiedliche Klangszenerien zu „Hörgeschichten“ zu formen, bewies er beispielsweise mit seiner CD „Fever – Five Songs from a Percussionist“ (2002). Beim Projekt „Cover Versions“ (2006) nahm er hingegen Bezug auf die Praxis der Neuinterpretation von Pop- und Rocksongs, ließ Bezüge zur Musik der Beatles, David Bowies oder Jimi Hendrix’ anklingen und nutzte Elemente wie Hall und Nebengeräusche, um die Marginalien der Pop-Soundästhetik für sich fruchtbar zu machen. Darüber hinaus trat er zunehmend auch mit installativen Anordnungen an die Öffentlichkeit, so 2009 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik mit dem Projekt „Lis­ten and Taste“, mit dem er durch Einbeziehung von Klängen, Gerüchen und Geschmäckern an den Grenzen zwischen Kunst und Alltag rüttelte.

Untrennbar von diesen Aspekten war schließlich Kauls Engagement für den musikalischen Nachwuchs, das bereits 1999 zur Einrichtung von Kinderkompositionsklassen des Ensembles L’ART POUR L’ART führte. Dabei ging es vorrangig um Details, die der schulische Musikunterricht – sofern er denn überhaupt noch stattfindet – kaum mehr vermittelt: darum nämlich, den Alltag gegenüber dem Ungewohnten zu öffnen, die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung für Unbeachtetes zu schärfen, durch Experimente spielerisch Kreativität zu entwickeln und dies schließlich als Triebfeder für die Entstehung notierter Musik zu nutzen. Die schönste Würdigung für den unermüdlichen Einsatz in dieser Herzensangelegenheit war die 2012 beim „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ getroffene Entscheidung, eine gemeinsam mit acht Schülerinnen und Schülern der Kompositionsklasse von L’ART POUR L’ART produzierte CD als beste Neuerscheinung in der Kategorie zeitgenössische Musik zu küren und ihre Stellung „auf einer Stufe mit professionellem Komponieren“ zu betonen.

Matthias Kaul war, dies verdeut­licht die nahtlose Verzahnung seiner Aktivitäten, ein im besten Sinne des Wortes ganzheitlich denkender Musiker: Jenseits theorielastiger Diskurse die gegenseitige Bereicherung von Kunst und Leben immer fest im Blick, erstreckte sich seine Kunstausübung über alle denkbaren Bereiche hinweg und zielte letzten Endes auf die Bewusstmachung von Lebenszusammenhängen. Am 1. Juli 2020 hat die zeitgenössische Musik daher einen ihrer sympathischsten und anregendsten Denker verloren.

Zum Nachhören:

  • Hans-Joachim Hespos: „Solo Works 69–96 (mit Ensemble L’ART POUR L’ART). cpo 999 890-2 (2003)
  • Vinko Globokar: „toucher“. Wergo WER 66622 (2004)
  • Makiko Nishikaze: „walking, north, north“ (mit Ensemble L’ART POUR L’ART). Wergo ARTS 8118 2 (2009)
  • Alvin Lucier: „nothing is real…“. Wergo WER 66602 (2003)
  • Christian Wolff: „Bread and Roses“ (2003) (mit Malcolm Goldstein). Wergo WER 66582
  • Matthias Kaul: „Fever“ (2002). Berslton 102 01 20
  • Matthias Kaul: „Cover Versions“ (2006). Berslton 106 08 14
  • Malcolm Goldstein / Matthias Kaul: „The Smell of Light“ (2004). Berslton 104 01 08
  • „Cage after Cage. Works for Percussion solo“. Wergo WER 73202 (2015)
  • „Haltbar gemacht. Kompositionsklasse des Ensembles L’ART POUR L’ART“ (2012). Ensemble L’ART POUR L’ART. CD & DVD, Berslton 111 05 31/211 05 31

Zum Nachlesen:

  • Astrid Schmeling (Hrsg.): Musik für eine Stadt. Das Ensemble L’ART POUR L’ART und die Kinderkompositionsklasse Winsen/Luhe – eine Dokumentation, Saarbrücken: Pfau 2003
  • Gordon Kampe: „Some kind of way out of here.“ Die Musik des Hörsüchtigen Matthias Kaul, in: Seiltanz 10, April 2015, S. 37–41

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