Was wäre Henryk Górecki ohne seine 3. Sinfonie? Sicherlich immer noch der bedeutendste polnische Komponist neben Witold Lutoslawski und Krzysztof Penderecki. Aber er hätte es nie in die Charts geschafft und damit auch nicht zu einer derartigen Popularität, die den Meister ab den 1990e- Jahren so sehr ehrte wie sie ihn wohl auch bedrängt hat. Am Freitag ist Henryk Mikolaj Górecki im Alter von 76 Jahren in Katowice verstorben. Die 3. Sinfonie blieb die letzte, die der Meister vollendet hat.
Für viele, sehr viele Menschen dürfte das Opus 36 von Henryk Górecki das einzige Werk sein, das sie von diesem 1933 in der Nähe von Rybnik in Schlesien geborenen Komponisten je gehört haben. Er hat diese 3. Sinfonie 1976 mit dem Untertitel „Sinfonie der Klagelieder“ geschrieben („Symfonia pieśni żałosnych“), ein Jahr später ist sie, ein Auftragswerk des Südwestfunks Baden-Baden, durch dessen Symphonieorchester unter Leitung von Ernest Bour uraufgeführt worden. Den Solopart sang damals die Sopranistin Stefania Woytowicz.
Doch erst die 1992 entstandene Aufnahme mit der London Sinfonietta unter David Zinman mit Dawn Upshaw als Solistin sollte das Werk – und vor allem dessen Schöpfer – weltweit bekannt machen. Die CD hat sich millionenfach verkauft. Insbesondere die mehrfache Verwendung als Filmmusik und der auf dieser Sinfonie basierende Hit „Górecki“ der britischen Gruppe Lamp sorgten für enorme Popularität. Er gelang in die Popcharts und sein bis dahin kaum breiterem Publikum vertrauter Komponist in die Schlagzeilen.
Plötzlich wurde der Name Henryk Góreckis auch in Medien buchstabiert, die weder um dessen Herkunft – er war ein Schüler des Karol-Szymanowski-Schülers Bolesław Szabelski – noch um sein bisheriges Werk wussten. Dabei suchte der strenggläubige Pole, Katholizist durch und durch, schon längst die Verbindung aus polnischer Enklave zum Musikleben des Westens. Er hatte nach seinem Kompositionsstudium in Katowice und ersten Erfolgen beim 1956 gegründeten Festival Warschauer Herbst Anfang der 1960er-Jahre in Paris studieren dürfen, wo er die Vergeistigung seines Schaffens nicht zuletzt unter dem Einfluss von Olivier Messiaen, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen betrieb.
Beizeiten verband der von 1975 an als Rektor der Musikakademie Katowice agierende Künstler sein Wirken auch eng mit der ihm eigenen Spiritualität. Kompositionen wie „Epitaphium“ (1958), die „Klagelieder“-Sinfonie (1976) und die dem Papst gewidmeten Werke „Beatus Vir“ (1979) und „Totus Tuus“ (1987) gaben ein beredtes Zeugnis davon ab. Die Radikalität der experimentellen Wagnisse in seinem Frühwerk „Scontri“ (1960) und in der 1. Sinfonie, die nach der osteuropäischen Tauwetterperiode schlicht „1959“ bezeichnet wurde, dämmte er später zugunsten von Folkloreelementen wieder ein. Sein Schaffen speiste sich insbesondere aus starken Bezügen zu Natur und Religion.
Nach der im offiziellen Polen stark kritisierten Papst-Gabe legte Górecki sein Amt an der Akademie nieder, die politischen Entwicklungen standen seinen Auffassungen diametral gegenüber. Erst der späte „Klagelieder“-Erfolg, der das Werk freilich ein wenig in die Esoterik-Ecke schob, rehabilitierte den schwierigen Zeitgenossen auch in seinem Heimatland wieder. Mit seinen drei dem Kronos Quartet gewidmeten Streichquartetten, die zwischen 1988 und 1995 entstanden, konnte er an frühere Erfolge nicht mehr anknüpfen. Die zuletzt in Arbeit befindliche 4. Sinfonie, ein Auftrag des London Philharmonic Orchestra, bleibt nun ein unvollendetes Werk. Seine lange Krankheit machte ihm das Schreiben bereits unmöglich.