10 Jahre war Catherine Rückwardt Generalmusikdirektorin in Mainz – als eine der bislang ganz wenigen Frauen in einer solchen Chefposition. Ihr letztes Sinfoniekonzert war Anlass, im Gespräch Bilanz zu ziehen.
Über das Thema „Frauen als Dirigentinnen“ mag Catherine Rückwardt eigentlich nicht mehr reden. Es ärgere sie zu sehr, sagt sie, dass sich in den letzten 20 Jahren hier nichts geändert habe. Die Männer würden immer noch bevorzugt, und fatalerweise seien es in den Findungskommissionen oft die Frauen, die im Zweifelsfall lieber für den jungen, gut aussehenden Kandidaten votierten.. Für die Orchestermusiker sei ihr Geschlecht nie ein Problem gewesen. „Die bringt es viel mehr aus der Fassung, wenn’s von irgendwo zieht, als wenn vorne am Pult eine Frau steht.“
Außergewöhnlich waren die vergangen zehn Jahre trotzdem – in mehrfacher Hinsicht. Da ist zum einen die profilierte Programmgestaltung. Wie kein anderes Sinfonieorchester im Rhein-Main-Gebiet hat das Philharmonische Staatsorchester Mainz neben dem traditionellen Repertoire Raritäten und Novitäten gepflegt – und dabei trotz mancher Widerstände nicht nur einen Großteil des Stammpublikums mitgezogen, sondern so viele neue Hörer gewonnen, dass die GMD bei den Sinfoniekonzerten stolz auf eine Auslastung von 93 % zurückblicken kann. Anfänglich habe sie bloß aus der Not eine Tugend gemacht, berichtet Frau Rückwardt.: „Meine Vorgänger hatten das Standardrepertoire völlig abgespielt.“ Doch die Beschäftigung mit selten gespielter Musik bekam eine Eigendynamik. „Man verliert allmählich die Angst vor dem Neuen.“ Die anfängliche Notlösung wurde zum verlässlichen Markenzeichen – auch wenn manchmal Notenmaterialien in katastrophalem Zustand eintrafen und Probezeiten überhaupt schwer abzuschätzen waren.
Markante Beispiele in der letzten Saison waren etwa das 3. Sinfoniekonzert, das am Vorabend des Totensonntags Josef Suks Sinfonie Nr. 2 „Asrael“ mit Bohuslav Martinůs Trauermusik „Lidice“ und Karol Szymanowskis Sinfonie Nr. 4 verband – mit Andreas Hotz, dem jungen 1. Kapellmeister am Pult. Oder das 4. Sinfoniekonzert drei Wochen später unter dem Gastdirigenten Peter Rundel, in dem die beiden Sinfonien Nr. 67 und 104 von Joseph Haydn das Violinkonzert und das „Concert romānesc“ von György Ligeti einrahmten.
Auch Catherine Rückwardts Abschlusskonzert blieb dieser Linie treu. Auf Schönbergs „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“ folgte eine absolute Rarität, deren Partitur erst 1989 wiederentdeckt wurde: Das Violinkonzert des später verfemten russischen Avantgardisten Nikolai Roslawez (1880-1944) aus dem Jahr 1925 - eine stellenweise hoch abstrakte Musik, in der sich bewegte Skalen, Floskeln und Figuren nur gelegentlich zu Melodien oder wahrnehmbaren musikalischen Charakteren verdichten. Mit sicherer Hand steuerte Catherine Rückwardt das Orchester und die großartige, kurzfristig eingesprungene Solistin Judith Ingolfsson durch diese Partitur von unerbittlicher, bohrender Intensität, die in ihrer eigenartigen Mischung von Nüchternheit und Expressivität auch für den Hörer eine gewaltige Herausforderung bedeutet. Brahms’ Vierte Sinfonie nach der Pause war dann alles andere als ein Selbstläufer. Nur langsam schien sich hier die Musik aus herumliegenden sinfonischen Bruchstücken wieder zusammen zu setzen, bis am Ende die Chaconne-Variationen des Finales ihren ganzen Reichtum an Ausdrucksnuancen entfalten durften.
„Die Vierte Brahms kann man nur einmal im Leben zum ersten Mal hören – wie schrecklich!“, sagt Catherine Rückwardts halb im Ernst, halb scherzhaft und spricht damit eine Grundidee der Mainzer Konzertdramaturgie an: „Aber man kann sie wieder wie neu hören – in einem neuen Kontext.“ Nach Roslawez klingt Brahms eben nicht mehr nach Repertoire, und am Ende rücken sogar Schönberg und Brahms eng zusammen – sowohl im Expressiven wie in der Konstruktion. Maßgeblich beteiligt am Konzept dieser bewussten Kontextualisierung war die langjährige Musikdramaturgin Anne do Paço, die allerdings vor zwei Jahren zusammen mit Ballettdirektor Martin Schläpfer nach Düsseldorf wechselte. Ihre Programmhefte und Konzert-Einführungen sind, wie sich zeigt, schwer zu ersetzen. Aber auch Martin Schläpfer und sein „Ballettmainz“ dürften das Mainzer Orchester in diesen Jahren mitgeprägt haben. Die Live-Begleitung von Schläpfers Choreographien, die Musik nicht als Hintergrund benutzen, sondern mit ihrer Struktur und Emotionalität in den Dialog treten, hat mit zur wachsenden Durchhörbarkeit des „Mainzer Klangs“ beigetragen. Von Schläpfer habe sie extrem viel gelernt, sagt Rückwardt: „Er hat eine andere Herangehensweise an Musik“
Zu den unbestreitbaren Aktivposten der Ära Rückwardt gehört der enorme Aufschwung der Kinder- und Jugendarbeit. Kinder- und Jugendkonzerte sind zu 100 % ausgelastet, das Staatsorchester gastiert mit mobilen Opernproduktionen in den Schulen der Region, und im Februar 2011 startete es mit einer Mainzer Grundschule das Projekt „Kulturschule“, bei dem die Proben für das 4. Kinderkonzert für zwei Tage in die Schulturnhalle verlegt wurden. Wer einmal nach einem der „Konzerte für junge Leute“ in der Straßenbahn die Nachgespräche der jungen Konzertbesucher mitgehört hat, der zweifelt nicht daran, dass hier ein ebenso aufgeschlossenes wie sachkundiges Publikum heranwächst. In diesen Zusammenhang gehört auch Catherine Rückwardts intensives Interesse an Gehirnforschung. „Ich lese alles, was mir dazu in die Finger kommt,“ bekennt sie. Gerade in der Pubertät, in der alte neuronale Verknüpfungen abgebaut und neue aufgebaut würden, sei die Musik hilfreich, um emotionale Brücken wieder herzustellen.
Nicht Bitterkeit, aber doch Enttäuschung klingt bei Catherine Rückwardt durch, sobald es um die kulturpolitischen Situation geht: Ausgehend von der Politik und weiter verbreitet durch die Medien, laufe derzeit eine regelrechte Kampagne gegen die subventionierte Kultur. In der Tat: Wenn sich der Mainzer Finanzdezernent Günter Beck von den Grünen aus Anlass des jüngst beschlossenen Sparpakets ungeniert und unwidersprochen damit brüsten darf, erstmals Sparmaßnahmen am Staatstheater durchgesetzt zu haben, darf man sich schon wundern. Es war die vom damaligen Kultusminister Jürgen Zöllner betriebene Orchesterreform, die den Elan, mit dem Rückwardt 2001 gestartet war, schon zwei Jahre später ausbremste. Am Ende stand zwar nicht die beabsichtigte Fusion des Orchesters mit der Staatsphilharmonie Ludwigshafen, aber doch eine Reduzierung der Stellenzahl von 81 auf 66. Sie ist kombiniert mit Kooperationsverpflichtungen der rheinland-pfälzischen Orchester untereinander, die die Spielpläne in Mainz, Ludwigshafen, Koblenz und Trier nicht unwesentlich einschränken. Seit Jahren schon wird am Staatstheater Mainz am künstlerischen Personal gespart. Obwohl 1997 das Kleine Haus errichtet wurde, um den Spielbetrieb zu verdichten, spielt das Musiktheater in den letzten Jahren zunehmend weniger, zuletzt nur noch an einigen wenigen Tagen im Monat. Die Personaldecke für die Oper ist deutlich zu gering: „Ein Haus von dieser Größenordnung benötigt eigentlich 16 – 17 Solisten“, rechnet die scheidende GMD vor. In der Spielzeit 2010/11 waren es gerade einmal zehn.
Mit ihrem Wechsel in die freiberufliche Tätigkeit verbindet Rückwardt zunächst einmal ein Gefühl der Erleichterung. Seit 1996 amtierte sie nicht nur als Generalmusikdirektorin, sondern auch als Intendantin des Philharmonischen Staatsorchesters. Dies sei eine „unheimliche Mühle“ gewesen - belastend auch deswegen, „weil Entscheidungen der Intendantin oft gegen die Kunst gehen.“ Es tue ihr gut, nun den Kopf wieder frei zu haben für die Kunst. Und sie freue sich auch auf eine opernfreie Spielzeit; denn viele Musiktheater-Regisseure täten sich schwer mit einer glaubwürdigen und musikalischen Personenführung.
Das Mainzer Orchester sieht Catherine Rückwardt gut aufgestellt in puncto Klang, Spielfreude und Selbstbehauptungswillen. Konzeptionell darf das Publikum in Mainz und der Rhein-Main-Region auf eine Fortsetzung des eingeschlagenen Weges hoffen. Hermann Bäumer, der neue GMD, setzt mit dem Programm der nun beginnenden Spielzeit ganz ähnliche Akzente.