Der vehemente Zugriff der jüngeren Komponistengeneration auf interdisziplinäre Formate und mediale Instrumentarien, der die „Neue Musik“ vor geraumer Zeit aus einem latenten Dämmerzustand selbstreferenzieller Klang- und Strukturgefüge geholt hatte, ist mittlerweile ein alltägliches Phänomen kompositorischer Praxis. Auch Ole Hübner, mit 26 einer der Vielversprechendsten seiner Zunft, der bei Michael Beil und Johannes Schöllhorn in Köln Komposition studierte, zieht in seinen Kompositionen alle Register ästhetischer und technischer Verfügbarkeiten.
In hybriden Klangräumen können sich Instrumentales, Vokales, Elektronisches, Szenisches und Visuelles, Analoges und Digitales in unwirtlicher Dichte und Intensität begegnen. Doch irgendwas ist anders als in vielen betont „immersiven“ Erzeugnissen der Gegenwartsmusik, die inzwischen nicht selten einer gewissen Vordergründigkeit anheim fallen. Irgendetwas in Hübners unruhiger Gemengelage aus unmittelbarer Expressivität und assoziativer Wirklichkeitsblende erscheint dringlicher, ja poetischer als anderswo. Vielleicht liegt das daran, dass das „Theater“ eine so große Bedeutung für Hübner hat, nicht im Sinne von Gattung und städtischer Institution, sondern als ein prinzipiell offener Raum des künstlerischen Agierens und Experimentierens. Und dieser Raum ist in der Regel kein virtueller, sondern ein Raum der Konfrontation ... eine Konfrontation freilich, die vor allem mit Andeutungen und Ungreifbarkeiten arbeitet.
Imaginative Leerstellen
„Drei Menschen, im Hintergrund Hochhäuser und Palmen und links das Meer“ (2016/18) heißt das Stück, für das Ole Hübner diesjährig den Stuttgarter Kompositionspreis erhalten hat. Das opulente Ensemblestück mit Audiozuspielung, Live-Elektronik und vier Sprechern verrät schon im Titel einiges über seine ästhetische Disposition: vage und doch situativ, unverbindlich und dennoch aus persönlichem Erleben gespeist, wird ein lebensweltliches Setting in den Raum gestellt: Eine Strandszenerie, die in jedem x-beliebigen Urlaubs-Fotoalbum auftauchen könnte. Doch der deskriptive Habitus täuscht: Es erklingen weder musikalische „Bildbeschreibungen“ noch erzählerisch angelegte „Programmmusik“, das vorgegeben Wiedererkennbare dient nur als Trigger für imaginative Leerstellen, die von jedem Hörer selbst mit Leben gefüllt werden müssen. Hübner hat hierfür den Begriff des „Hörtheaters“ gefunden: „Ein Theater, das nur über das Hören funktioniert und als visuelle Komponente „nur“ das körperliche Agieren der Musiker*innen hat, von dem bereits eine riesige (und auch gezielt steuerbare) Energie ausgehen kann.“
Der Komponist begreift dabei den „Konzertsaal als einen Erfahrungs- und Erinnerungsraum“, der vom ‚Bewusstseinsstrom’ des Komponisten bewegt wird. Die Unruhe und Sprunghaftigkeit dieses Klangraumes und seiner wechselnden „Kulissen“ wird zu Beginn programmatisch von einem seismografisch expressiven Kontrabasssolo exponiert. Feldaufnahmen von Reiseaufenthalten und eingestreute Textfragmente geben dem Geschehen später augenblickshaft konkretere Verortungen. Der eigentliche Katalysator des Stückes ist jedoch gerade die Ambivalenz von klanglicher Autonomie, die einen permanenten Wechsel der Gestik und Aggregatzustände mit sich bringt, und dem Aufblitzen bildhafter, narrativer Momente im Rahmen komplexer Klangschichtungen.
Komplexe Verschachtelungen
Andere Kompositionen Hübners beziehen Visuelles substantiell mit ein: „Lied mit Chor: „Nachtigall mit Melodei“ für Stimmkünstlerin, Ensemble, 4-kanalige Audiozuspielung und Live-Elektronik (2016/17) entstand in Zusammenarbeit mit Charlotte Bösling, deren Video bei Live-Aufführungen obligatorisch ist. Dennoch produziert die Klang- und Textebene in komplexen Verschachtelungen und Überlagerungen divergenten Materials eigene Filme zwischen den Orten und Zeiten. Zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy (dessen „Sommernachtstraum“ der Titel entlehnt ist) und urbaner Realität, Shakespeare und subjektiver Gegenwartsbeschreibung: „Das ‚Thema‘, wenn man so will, ist die Nacht: und ist nicht die Nacht ein ganz wunderbarer Remix von Gedanken, Träumen, Ängsten, Irrungen, Schrecken, Geschichten, Flüssigkeiten, Farben, Lust, Lichtern, Sternen, Dunkelheit, Gerüchen, Rauschen, Tänzen und Klängen? Das Stück birgt eine ebensolche Fülle von Eindrücken und Materialien, vagen (und manchmal plötzlich ganz konkreten) Referenzen und Anspielungen, ganz bewusst, und wenn hier etwas ‚geremixt‘ wird, dann sind es vielleicht die klassischen Remix-Techniken selber, die sich durch das ganze Stück ziehen, aber subtil und gewissermaßen ‚zweckentfremdet‘: Loops, ungeahnte Übereinanderschichtungen, Aufnahme und Wiedergabe, mediale Manipulation, Verfremdung von Klangfarben. Die Medialität des Klangs selbst wird zur Frage: plötzlich scheinen Klänge aus einem verrauschten Radio zu kommen, plötzlich entstehen ungeahnte Vernetzungen in und zwischen Ton und Bild.“
Die Erzählerin bewegt sich darin fragmentarisch und sprunghaft durch eine Flut scheinbar unkontrollierter Eindrücke und Befindlichkeiten, der „rauschenden schwarzen Nacht“ lauschend. Labyrinthische Hörräume, in denen nicht nur die Sängerin, auch die Musiker stimmliche „Rollen“ zwischen Sprechen, Schreien, Flüstern, Atmen, absurdem Obertongesang oder monströs tiefem Death-Metal annehmen müssen.
Auch in „Mehrfachbelichtete Melodramen“ für Stimmkünstlerin, Elektronik und Video (2016/17) „findet sich das sich – stimmlich, geräuschhaft, perkussiv – äußernde Subjekt in einer imaginativen Kulisse aus Kommunikation und Alltagsklang wieder, welche die Zuhörenden einlädt, sich die Erinnerung an individuell erlebte Szenen anzueignen und sie mit ihren eigenen Erfahrungen und Vorstellungen interpretatorisch parallelzuführen, mehrfachzubelichten“. Dem Stück liegen Aufnahmen aus einem Straßencafe in Tel Aviv ebenso zugrunde wie eine Erzählung, die Hübner während eines China-Aufenthaltes schrieb. Es bleibt aber unklar, ob das klanglich und verbal Erzählte der Fiktion oder der Lebenswirklichkeit zuzuschreiben ist, eine „narrative Grauzone“, die zum eigentlichen Gegenstand des Stückes wird.
Auf die eigenen Mittel zurückgeworfen
Ole Hübner, das wird schnell klar im Rahmen der Vorbereitungen zu diesem Text (auch angesichts einer staunenswert offenen und inhaltlich raumgreifenden Kommunikationsintensität), ist ein bemerkenswert (selbst)reflexiver Komponist, der seine Mittel und Absichten immer wieder neu justiert. Sein Studium der Theaterwissenschaften in Gießen (u. a. bei Heiner Goebbels), das er 2016 ans Kölner Kompositionsstudium anschloss, hat seinem Komponieren nochmal ganz neue Impulse verliehen: „Schon in Köln hatte ich ein großes Interesse an Musiktheater, interdisziplinären Formaten, audiovisuellen Situationen etc. So etwas findet aber an Musikhochschulen meistens gar nicht statt, das heißt ich hatte so gut wie keine Ansprechpersonen für all das, was mich an Performativität und Theater interessiert hat. (...) In Gießen habe ich sehr schnell herausgefunden, dass gerade im Zusammenspiel von Musik und Theater viel interessantere Ergebnisse erzielt werden können, wenn man nicht „addiert“, sondern davon ausgeht, das Theatrale i n der Musik zu suchen oder dem Klanglichen i n performativer Aktion nachzugehen. Der (vielleicht überraschende) Effekt meines Theaterstudiums war also in der Hinsicht vor allem, dass ich zwischen all den Leuten mit klassischem Theaterhintergrund auf ‚meine‘ ureigenen Mittel zurückgeworfen wurde, also die klanglichen - während ich an der Musikhochschule immer versucht hatte, durch Ansätze ‚herauszustechen‘, die über das Klangliche hinausgingen.“
Kollektive Arbeitsprozesse
Momentan befindet sich Hübner, kürzlich noch Gast der Villa Aurora (Los Angeles), als Stipendiat der Cité Internationale des Arts in Paris. Bei allem Talent zur künstlerischen Sublimierung persönlicher Erfahrung entspricht Ole Hübner jedoch alles andere als einem Künstlertypus, der in den wechselnden Stipendiums-Klausen eines globalen Komponistenlebens sein Innerstes nach Außen kehrt. Der Gedanke kollektiver Arbeitsprozesse, inspiriert vom Gießener Theater-Ansatz, ist in den letzten Jahren immer bestimmender für die Gestalt seiner Stücke geworden, die in flexiblen Produktionszusammenhängen gängige Hierarchien auflösen wollen: „Was mich interessiert: Die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit einem festen Kollektiv, der radikale Diskurs im Team mit der ständigen Möglichkeit, in die jeweils ‚anderen‘ Arbeitsbereiche einzugreifen, weil ohnehin alle Beteiligten immer alle Parameter synästhetisch zusammendenken.“
Das bisher spektakulärste Ergebnis dieser Arbeitsweise war die sechsstündige musiktheatrale Installation „Music for J. T. – The Navidson Records“ (2015/16, mit Till Wyler, Tassilo Tesche, Rosalba Quindici, Benedikt Schiefer), wo in sechs verschiedenen Besetzungen/Aktionen für Ensemble, Audiosamples und Video dynamische, teils improvisatorische Raumsituationen inszeniert wurden. Für Ole Hübner stecken in diesen kollektiven Labor-Situationen aber nicht nur utopische Potentiale für die Zukunft des Theaters, sondern auch allgemein soziale Hoffnungen: „Die Erneuerung des Mediums Musiktheater hängt nicht daran, was auf der Bühne an politischen Aussagen getroffen wird, mit denen das Publikum ohnehin allzu schnell allzu einig ist oder die es halt irgendwie ‚provoziert‘ zurücklassen, sondern wie hinter der Bühne Modelle für ein utopisches, queeres, solidarisches, im besten Falle revolutionäres Zusammenleben und Zusammendenken erprobt werden. Ich glaube, das ist der einzige Weg, die politische Relevanz der Theater und Opern (wieder) zu stärken: Wenn sie mit großer Dringlichkeit das Anliegen vertreten, auf sämtlichen Ebenen Zeit-Räume zu kreieren, die besser und wichtiger sind als der Neoliberalismus.“
Musiktheaterprojekte 2020
Das Potenzial eines kollektiv generierten Musiktheaters wird zu Beginn nächsten Jahres in zwei groß angelegten Produktionen nachprüfbar werden: In Bern (18.01.) steht die Uraufführung von „Ödipus REC.“ in den Startlöchern, ein Stück, das Hübner erneut im Künstlerkollektiv the navidsons entwickelt hat. Die Neubefragung von Stoffen und Motiven der griechischen Mythologie ist ein auffallend regelmäßiger Ausgangspunkt der Theaterräume Hübners: „Der Grundgedanke bei der Verwendung so einer Geschichte ist natürlich, dass man, ausgehend von ihrer Bekanntheit, ganz neue Aspekte aufdecken oder vielleicht ergänzen kann, während quasi ‚im Hintergrund‘, in den Köpfen des Publikums, ein imaginärer Sophokles/Hölderlin mitläuft. In diesem Falle geht es außerdem darum, diesen latenten imaginären Narrationsfluss ein wenig aufzuhalten, ins Stocken zu bringen, weil es eigentlich nur um einen einzigen Moment geht – denjenigen, in dem Ödipus versteht, was er getan hat.“
Der Gedanke, einen Moment der Erkenntnis als theatralen Raum zu gestalten, findet sich in vielen Musiktheaterarbeiten Hübners wieder: „In ‚The Navidson Records‘ ging es sechs Stunden lang um den nicht fassbaren Augenblick, in dem eine Situation, eine Erscheinung, ein Bild von nicht-unheimlich in unheimlich kippt; in ‚Orpheus Moments‘ um die Behauptung eines einzigen Zeitpunkts kollektiv empfundener universeller Veränderung, in dem sich eine Person (‚Der Darsteller von Orpheus‘) ein Bein bricht, eine andere (‚Der Techniker‘) plötzlich die Sinnlosigkeit ihrer Tätigkeit erkennt, eine dritte (‚Eurydike‘) den emanzipatorischen Entschluss fasst, für immer in der Unterwelt zu bleiben. Das Wortspiel „Rex/REC“ im Titel des neuen Projektes verweist dabei auf die Darstellungs- und (Selbst)Inszenierungsmodi der Gegenwart, also „die unermessliche Macht, die ‚Records‘, YouTube-Videos, Medienbilder, Photoshop-Fakes usw. heute haben bzw. entwickeln können. Die große Frage also: ‚Wer‘ oder ‚was‘ ist heute unser „Rex“, unser Beherrscher, gibt es diese Entität überhaupt, kann man sie benennen oder auch nur eingrenzen.“
Um die Verquickung von Vergangenheit, Gegenwart und ungewisser Zukunft geht es auch im von der Münchner Musiktheaterbiennale (UA 17.5.) und Oper Halle (5.6.) beauftragten „opera, opera, opera! revenants and revolutions“. Hübners bis dato umfangreichstes Projekt wird alle Register des Apparates Oper ziehen (Solist*innen, Chor, Kinderchor, Orchester und Elektronik) und fungiert als „verschollener 4. Teil der Klima-Trilogie“ von Dramatiker und Librettist Thomas Köck. Der Entwicklungsprozess gestaltete sich gewohnt interdisziplinär mit Dramaturgin Maria Huber und Jakob Boeckh. Man darf gespannt sein, wie diese Arbeitsprozesse und Inhalte sinnvoll mit einer externen Regie zusammenkommen können. Dabei wird es nicht ohne eine generelle Auseinandersetzung mit dem „Dispositiv Oper“ abgehen.
Eine Oper über eine Oper über eine Oper? Nicht nur, aber auch: „Die ziemlich planlosen und lethargischen Figuren erkennen nämlich an einem gewissen Punkt, dass sie sich in einer Oper befinden, und dann gibt es eine Art Rückblick auf diese Gattung, die so viele eigenwillige Konventionen ausgebildet, dabei aber auch nebenbei mal eine Revolution ausgelöst hat (die Aufführung von D. F. E. Aubers ‚La muette de Portici‘ 1830 in Belgien, eine wahre Geschichte!). Am Ende der Oper erleben wir dann aber in einem surreal-dystopischen Realitätszusammenbruch so etwas wie das „Ende der Oper“ im Allgemeinen, also die Katastrophe dieses Dispositivs.“
Dystopie und Utopie - wesentliche Energiefelder, die Ole Hübners Hörräume bewegen, und manchmal liegt nur ein Klang zwischen ihnen, oder ein Wort, oder gar nichts…