Noch etwas kam hinzu, was für das Œuvre von Martin wichtig wurde: eine gleichsam aristokratische Feinsinnigkeit, die in der modernen Musik wenig Parallelen hat. Martins Ausdruckspalette war relativ schmal: sie reichte von nobler, milder Entrücktheit und Ekstatik bis zum ziselierten Lyrismus. Auch das Phantastische blieb entweder herb klangsinnlich oder spielerisch-preziös vermittelt, so etwa in der 1956 uraufgeführten […] Shakespeare Oper „Der Sturm“. In zahlreichen Werken manifestierte sich Martins eigenartig neuromantisch-exquisiter Archaismus, so in dem Tristan-Oratorium „Le vin herbé“ (1938–41). Debussy, Fauré und Franck prägten den frühen Martin; diese Erlebnisse wirkten auch in der neoklassizistisch orientierten Phase („Petite Symphonie concertante“, 1945) noch als Verpflichtung zu erlesener Geistigkeit nach. Stücke wie die Jedermann-Monologe (1943) oder die Acht Préludes für Klavier (1948) gehören zu den eindrucksvollsten Dokumenten einer expressiven, verinnerlichten Tonsprache, deren religiös grundierter Reflex auf Krieg und Nachkrieg unüberhörbar ist. […]
Hans-Klaus Jungheinrich, Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 6, Dez. 1974