Alle wissen das (eigentlich): Die deutsche Gesellschaft wird nicht nur älter (und weniger), sondern auch kulturell „bunter“, und das heißt auch: diverser. Den Bevölkerungsstatistiken zufolge wird ab etwa 2020 der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund zumindest in unseren westdeutschen Großstädten und urbanen Ballungsräumen den der alteingesessenen Deutschen erreicht beziehungsweise überschritten haben.
Was geht das die Chormusik an?
Die Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ nimmt in ihrem Schlussbericht von 2007 an, dass „mithilfe künstlerischer Prozesse [...] der soziale Integrationsprozess wirksam unterstützt und gefördert werden“ kann. Damit steht sie für einen neuen Trend des politischen Interesses an Kultur. Übertragen auf das Chorwesen heißt das: Chöre, zumal sie den umfangreichsten Teil des Laienkulturbetriebs ausmachen, sind politisch nicht nur musikkulturell, sondern auch sozialkulturell interessant.
Diese gesellschaftspolitische Außensicht richtet sich auf Funktionen, die Chöre auch haben. Nämlich für die Mitglieder ein Stück soziale Heimat zu sein. Chorleiter/-innen betreiben ihr Geschäft zwar vor allem als Künstler und Musikpädagogen, nicht als Sozialarbeiter – und das ist natürlich auch in Ordnung – aber der demografische Wandel zwingt dazu, die sozialen Randbedingungen in der Arbeit stärker zu beachten. Das gilt für Kinder- und Jugendchöre, die existentiell auf ständige Nachwuchszufuhr angewiesen sind, ganz besonders.
Vor diesem Hintergrund erkundet der Arbeitskreis Musik in der Jugend e.V.(AMJ) in einem Untersuchungsprojekt, das von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien finanziert wird, Herausforderungen und Wirkungen von Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen unter den Bedingungen der Migrationsgesellschaft.
Gibt es zu wenig Migranten in Kinder- und Jugendchören?
Der Auslöser waren eine Reihe von Einzelbeobachtungen in der Chorszene: Menschen aus anderen Ländern scheinen in unseren Chören – jedenfalls in der organisierten Chorszene – deutlich unterrepräsentiert. Das wurde in einer Reihe von Experteninterviews bestätigt. Zugleich wurde ein großes Interesse in der schulischen und außerschulischen Chorarbeit an dieser Fragestellung deutlich.
Und gleich ging es auch um mögliche Ursachen für die Zugangsschwellen. Liegt das an unterschiedlichen musikalischen Traditionen, an unterschiedlichen Kulturbegriffen, an unterschiedlicher bildungsbedingter Nähe zum aktiven chorischen Musizieren? Es könnte auch an der gesungenen Literatur liegen, die bei anspruchsvollerer Chorarbeit zum Beispiel nicht ohne Einbeziehung geistlicher musikalischer Tradition auskommt. Das erhöht bei religiös kulturell aus anderen Traditionen stammenden Menschen möglicherweise die Zugangsschwellen. Außerdem: Es gibt ja auch Chöre in Gegenden, wo es einfach nicht so viele Migranten gibt.
Allerdings: Die dargelegten Beobachtungen fußten auf noch punktuellen Beobachtungen und Erfahrungen beziehungsweise Übertragungen aus anderen Kulturbereichen. Eine genauere Untersuchung chorischen Musizierens unter den Rahmenbedingungen der Migrationsgesellschaft fehlte. Das Projekt (Laufzeit Oktober 2014 bis Januar 2016) trägt dazu bei, diese Lücke zu schließen.
Erste Erkenntnisse und: Wie geht es weiter?
Literaturrecherchen, leitfadengestützte Experteninterviews und eine breit angelegte schriftliche Befragung von Chorleiter/-innen von Kinder- und Jugendchören, die im Juli abgeschlossen wurde, sind die Instrumente der Untersuchung. Sie erbrachten, soviel kann man jetzt schon sagen, wertvolle Erkenntnisse.
Rund 60 Prozent der per Umfrage erreichten Chorleiter/-innen sind weiblich, 70 Prozent haben in ihren Chören Mitglieder mit Migrationshintergrund. Tatsächlich finden sich Kinder- und Jugendchöre mit migrantischen Mitgliedern schwerpunktmäßig in den urbanen Ballungsräumen der alten Bundesrepublik. Die Migrationsherkünfte verteilen sich auf alle Weltregionen, der Schwerpunkt liegt aber eindeutig in Europa und dort in Mittelost- und Osteuropa. Das am meisten genannte Einzelland ist die Türkei. Auch über die Rolle der Eltern und über erfolgreiche musikalische Strategien ergeben sich interessante Erkenntnisse.
Chorleiter/-innen mit migrantischen Mitgliedern in ihren Chören schätzen das Förderpotential, das deren Mitwirkung ihnen bietet, höher ein. Ihnen liegt die Einbeziehung dieser Kinder und Jugendlichen auch stärker am Herzen als ihren Kolleg/-innen mit ausschließlich deutschstämmigen Chormitgliedern. Wir gewinnen ganz allgemein einen Einblick in Leben und Arbeit in Kinder- und Jugendchören, wie wir ihn bislang so tiefgreifend und systematisch nicht hatten.
In einer Fachtagung am 27./28. Oktober dieses Jahres an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel werden die Ergebnisse präsentiert und zur Diskussion gestellt: Es wird um die Frage gehen, welche Haltung wir zwischen Integration und Inklusion, zwischen Interkultur und Transkultur, zwischen Bedenklichkeit und Neugierde einnehmen wollen. Nicht zuletzt werden wir beraten, was wir an praktischen Maßnahmen und Veränderungen in unseren Chören brauchen, um auch jungen Menschen aus anderen sozialen und kulturellen Zusammenhängen als bisher den Zugang zu ermöglichen. Und das ist ja nicht nur ein Thema für die Migrationsgesellschaft. (Alle näheren Informationen zu dem Projekt und das Tagungsprogramm finden sich hier: www.amj-musik.de/cim/)