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Mehr Musik in der Schule, aber wie?

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Zur Initiative des Deutschen Musikrats zur Förderung des Musikunterrichts in der Grundschule
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Es ist in der nmz zur Tradition geworden, auf Artikel „vor 50 Jahren“, „vor 100 Jahren“ zu verweisen, um dabei – oft mit einem gewissen Augenzwinkern – auf Kuriositäten unseres Musiklebens hinzuweisen.

Hier soll nun an einen Beitrag aus der nmz 11/2000 erinnert werden, auf einen Weckruf, der fast auf den Tag genau 20 Jahre zurückliegt: „Mehr Musik in der Schule!“ titulierte Wolfhagen Sobirey, damals wurde dieser Slogan noch ohne Akzidenz, ohne Markierungszeichen eines Hashtags geschrieben: „Die Ausbildungsstätten müssen die Zahl der Studienplätze für Schulmusik an Grund- und Hauptschulen erhöhen, wenn nicht gar verdoppeln. Jahr für Jahr legen an den deutschen Hochschulen und Konservatorien zig Pianisten ihre Examina ab – obwohl es den Beruf des Pianisten de facto kaum gibt. Keine Frage, die Ausbildungsstätten lieben das Ausbilden ihrer Instrumentalisten und Sänger über alles. Was sie nicht so lieben, ist die Arbeit in der Schulmusik­abteilung“ (Sobirey nmz 11/2000, S. 56). Und mit Blick auf die Grundschulen weist Sobirey darauf hin: „Wir können es uns zur Zeit nicht erlauben, dass Musikfachkräfte meist andere Fächer unterrichten. In der Grundschule behindert uns das Klassenlehrerprinzip“ (ebd.).

Es ließe sich mehr aus dieser nach wie vor aktuellen Zustandsbeschreibung zitieren, Historiker werden jubeln, wenn wieder einmal festgestellt werden darf, dass die Natur einer Sache in ihrer Geschichte liegt. Nun dürfen wir dankbar dafür sein, dass eine bisher für evident gehaltene Erkenntnis mit empirischem Besteck nachgewiesen wurde. Manch einem Landesfürsten des Deutschen Bundes hat die Datenlage nicht gefallen, Abwehrkämpfe werden geführt und regelrecht ideologische Fronten aufgemacht, obwohl hier nur ein allgemein gegebenes Erkenntnisobjekt direkt erfasst wird: Wir alle erleben, dass gerade an den Grundschulen der Musikunterricht seinen Namen oft nicht verdient, wenn er denn überhaupt stattfindet. Natürlich ist allein die Datenerhebung in unseren föderalen Strukturen komplex, manches muss mangels konkreter Kennzahlen in genäherten Bestimmungen steckenbleiben, doch bleibt insgesamt festzustellen: Die Situation ist in vielen Bundesländern wohl eher noch schlechter!
Zunächst gilt es, dem Deutschen Musikrat mit seinen Landesmusikräten, der fördernden Bertelsmann-Stiftung und der Exekutive um Andreas Lehmann-Wermser einen großen Dank auszusprechen, dass die uns allseits bekannten Probleme so lautstark artikuliert und auf das politische Tableau gebracht werden – und das in einer Zeit, in der wir alle uns auch mit anderen und vielleicht noch gravierenderen Problemen auseinandersetzen müssen.

Die entscheidende Frage nach dem „aber wie“ scheint aber auch 20 Jahre, nachdem Wolfhagen Sobirey sie gestellt hat, noch nicht zufriedenstellend beantwortet zu sein. Nun ist die Gemengelage insgesamt sehr komplex – und vielleicht ist sie so verflochten, dass sie in ihrer Problematik plakativ gemacht werden muss, um überhaupt ein politisches Handeln zu ermöglichen. Eine vom Deutschen Musikrat initiierte Online-Tagung versuchte, den Antworten auf diese Frage nachzugehen.

Aus der Sicht des BMU, dem bundesweiten Fachverband für die musikalische Bildung an Schulen, und aus meiner persönlichen Perspektive eines Hochschullehrers, dem nicht nur die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer anvertraut ist, sondern der in der Praxisbegleitung seine Studierenden den leidvollen Kreisläufen aus fehlenden Grundkompetenzen der unterrichtenden Vorbilder und der Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sieht, sollen nun allen, die sich weiterhin mit der Beantwortung der Frage nach dem „Wie“ beschäftigen, einige Gedanken auf den Weg gegeben werden. Nach Elias Canetti sind „Fragen auf Antworten bedacht“ (Canetti 1980, S. 335 ff.). Dem Musikrat sei nun ans Herz gelegt, sich mit jenen zu verständigen, die sich in den letzten 20 Jahren sehr eingehend mit den hier im Raum stehenden Fragen beschäftigen und längst Antworten geliefert haben. Ein Forderungspapier ist schnell in den Raum gestellt, aber sind den Protagonisten die Hintergründe der angesprochenen Probleme in all ihrer Problematik bekannt? Die Frage nach vereinfachten Zugängen zum Studium löst bei Entscheidungsträgern Kopfschütteln aus, wenn fachspezifische Zugänge ausgeschlossen sind – und es dann ohnehin nicht genügend geeignete Bewerber gäbe.

Wer Aufnahmeprüfungen reformieren möchte oder die Praxisferne der Lehramtsstudiengänge bemängelt, darf nicht sein eigenes Metierwissen anlegen, das meist auf den persönlichen Erfahrungen aus früheren Epochen der Menschheitsgeschichte beruht. In den letzten Dekaden hat sich viel geändert, sowohl an den Musikhochschulen, wie auch an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen. Leider hat sich so etwas noch nicht genügend bei jenen herumgesprochen, die mit der individuellen musikalischen Förderung potentieller Lehramtsanwärter am intensivsten betraut sind, die selbst aber aus einer exklusiven künstlerischen Sozialisation erwachsen sind.

Wer nun „mehr Musik in der Schule“ mit Hashtag fordert, der soll klar definieren, dass hier schulische und außerschulische Akteure im Spiel sind, die in ganz unterschiedlichen Schattierungen für mehr Musik an der Schule eintreten. Allgemein gehaltene Forderungen nach großen Tafelrunden verkennen, dass es hier für beide Bereiche ganz unterschiedliche Ansprechpartner braucht, um dann auch punktgenau agieren zu können. Denn wer hier von den sprichwörtlichen zwei Seiten einer Medaille spricht, kann leicht verkennen, dass dabei unterschiedliche Währungen im Spiel sind, die eben an verschiedenen Börsen verhandelt werden.

Wie lässt sich die gebotene Fachlichkeit des Musikunterrichts bei den Lehrerinnen und Lehrern, bei Schulleitungen, aber auch in den Ministerien einfordern? Musik in der Schule ist fundamental und müsste allen, die sich für Kulturelle Bildung einsetzen, ein zu wichtiges Anliegen sein, als dass sie entgegen der gebotenen Wissenschaftsorientierung zum Trittbrett der eigenen Lobbyarbeit werden dürfte: „Wir haben bei uns so ein schönes Modell, dass Musikschullehrer die Lehrkräfte an den Schulen fortbilden.“ – „Man sollte den Musikakademien diese Aufgaben übertragen!“, so lauteten Chatkommentare, deren Umsetzung letztlich zu einer Entakademisierung und Entprofessionalisierung eines ganzen Berufstandes führen würden.

Bleibt zum Abschluss noch ein visionärer Blick in die Zukunft. Wie könnte nun ein nmz-Beitrag im Jahre 2040 aussehen? „Musik stellt ein zentrales Moment der Lehrerausbildung dar. Die Musikpflege ist Teil eines umfassenden Bildungskonzepts an den Ausbildungsstätten. Musik ist Pflichtfach und nimmt für alle Lehramtsanwärter in den Studienplänen den größten Raum ein.“ Solch ein Wunsch-Zustand ist trotz aller Bemühungen des Deutschen Musikrats bis zum Jahr 2040 wohl nicht zu erwarten. Und doch greifen diese Formulierungen auf den Ist-Zustand der Lehrerseminare des 19. Jahrhunderts zurück, der wie allseits bekannt aus dem engen Verhältnis zwischen Schule, Kunst und Kirche resultiert (Kremer 2015, S. 99 ff.). An der pädagogischen Hochschule Weingarten ist der vergangene musikpädagogische Schwerpunkt noch milde spürbar. Eine Übeorgel weilt stumm im Bürotrakt des Faches Deutsch, eine zweite zierte lange ein Großraumbüro der Erziehungswissenschaften, eine dritte befindet sich inzwischen im außerhochschulischen Exil, die mittlerweile unspielbare Aula-Orgel besticht durch einen fotogenen Prospekt für Belobigungsrituale, das Eindampfen einer Professorenstelle stößt allerdings noch auf Widerstand unter den Studierenden. Doch nicht alles wünschen wir uns aus der alten Zeit zurück: Die 1950 in eine Kann-Bestimmung umgewandelte Zölibatsklausel aus dem Beamtengesetz von 1937 (§ 63), demnach weibliche Beamte aus dem Schuldienst zu entlassen seien, wenn ihre wirtschaftliche Versorgung durch Eintritt in den Ehestand gesichert scheint, (Hofmann 2015, S. 84) würde heute fatale Folgen haben und alle Schulen in einen endgültigen Lockdown versetzen.


  • Canetti, Elias (1908): Masse und Macht. Frankfurt a. M.; Fischer
  • Hofmann, Gabriele (2015): Genderfragen in der Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen gestern und heute. In: ik an den württ. Lehrerseminaren, HG. J. Kremer. Neumünster: Bockel-Verlag, S. 71–86
  • Kremer, Joachim (2015): Musik an württ. Lehrerseminaren. Neumünster: Bockel-Verlag, S. 89–109
  • Sobirey, Wolfhagen (2000): Mehr Musik in der Schule, aber wie? In: nmz 11/2020, S. 56
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