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„Mut, Offenheit und große Kraft“

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Die Bundesakademie in Trossingen begreift die Krise als Chance
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Sie ist Fort- und Weiterbildungseinrichtung, Beratungspartner, Arbeits- und Tagungsstätte in einem: Die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen wird vom Bund und vom Land Baden-Württemberg institutionell gefördert; ihr Träger ist allerdings ein Verein aus 36 Musikfachverbänden, zu denen seit 20 Jahren auch der Deutsche Tonkünstlerverband gehört. Die weitreichenden Schutzmaßnahmen in Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie haben in den letzten Monaten den Betrieb in Trossingen vorübergehend ganz lahmgelegt und dessen anschließende Wiederaufnahme erschwert. René Schuh, Direktor der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen, sieht in dieser Herausforderung aber auch eine Chance.

Die Versammlungs- und Kontaktverbote führten Mitte März zum offiziellen Shutdown, doch schon ab Anfang März hatten die Trossinger alle Fachtagungen, Lehrgänge, Arbeitstreffen und Sitzungen der beteiligten Verbände und die eigenen Veranstaltungen abgesagt – auch aus finanziellen Gründen eine schwierige Entscheidung: „Gerade die Anfangszeit war für uns sehr anspruchsvoll, weil wir mit den Ängsten und Sorgen unserer Beschäftigten verständnisvoll umgehen mussten“, berichtet Akademiedirektor René Schuh. „Wir alle hatten so eine Situation noch nicht erlebt. In den ersten Wochen konnten beispielsweise im Hauswirtschaftsbetrieb noch Routineaufgaben und Renovierungsarbeiten erledigt werden, aber dann kam es auch zeitweise zu Kurzarbeit.“

Bis verbindliche Verordnungen zum Betreiben von Weiterbildungsinstitutionen vorlagen, mussten die Trossinger je nach Nachrichtenlage selbst abwägen, ob sie Veranstaltungen absagen sollten oder nicht: Die Bundesakademie ist berufliche Bildungseinrichtung und musikpädagogische Bildungsstätte, Seminaranbieter und Unterkunfts- und Verpflegungsbetrieb – für alles gibt es unterschiedliche Verordnungen. Hinzu kommen die unterschiedlichen Verordnungen der einzelnen Bundesländer.

Durchgeplante Lehrgangsphasen mit festen Dozententeams mussten verschoben, alternative pädagogische Konzepte wie Fernbetreuung und digitale Angebote ausgearbeitet werden, um in Weiterbildung Befindliche fachlich begleiten zu können. Keine leichte Entscheidung, denn in die Zeit der Schließung fielen auch Prüfungen von Lehrgängen, auf die sich die Teilnehmenden monatelang vorbereitet hatten. Die Ausbreitung der Pandemie gab den Trossingern in ihrer vorsorglichen Entscheidung aber recht.

Noch lange keine Normalität

Seit Anfang Juni, dem frühestmöglichen Termin, fahren Akademiedirektor René Schuh und sein Team – Fachdozentinnen, Verwaltung und hauswirtschaftlicher Bereich – den Betrieb allmählich wieder hoch, mit erheblichem Aufwand und vielen Einschränkungen: „Die Folgen des Shutdowns werden die Bundesakademie weit ins Jahr 2021 beschäftigen“, prognostiziert Schuh, „weil die weiterbildungswilligen Musikpädagoginnen und -pädagogen aufgrund der Unterbrechung sehr viel eigenen Unterricht nachholen müssen und unglaubliche finanzielle Einbrüche erlebt haben.“ Er rechnet damit, dass es noch Jahre dauern wird, bis potenziellen Teilnehmern wieder in gewohntem Maß Zeit, Freistellung und Geld für wichtige Weiterbildungen zur Verfügung stehen.

Kommen noch die Hygieneregeln hinzu, die vom Haus große Anstrengungen und von den Besucherinnen und Besuchern große Disziplin erfordern, trotz der großzügig dimensionierten Räume in der Bundesakademie. Es kann vorkommen, dass sich im Kantinenbereich das Mittagessen aufgrund der Belegungsgrenzen über Stunden hinzieht. Aber sowohl bei der Bundesakademie als auch bei den Teilnehmenden überwiegt die Freude über die persönliche Begegnung, berichtet Schuh: „Und außerdem treffen die Beschränkungen in vergleichbarem Maß alle mehr als 20 Musikakademien in Deutschland. Wir sind innerhalb unseres Verbandes in gutem Kontakt und tauschen Erfahrungen, Entscheidungs- und Lösungsansätze aus, auch zu wirtschaftlichen Folgen.“

Ein großer Innovationsschub

Während des Shutdowns musste die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung auf rein digitale Angebote setzen: Sie reagiert mit 90-minütigen Online-Seminaren, die auch dazu dienten, überhaupt erst digitale Möglichkeiten des Austauschs und der Vermittlung aufzuzeigen und auch denen, die digitalen Medien bisher eher fernstanden, einen positiven Einstieg zu ermöglichen. Dazu kamen Kompetenzseminare, um die Teilnehmenden zu ermuntern, selbst digitale Angebote für ihren Unterricht zu entdecken und für die eigene Arbeit zu erlernen.

René Schuh beobachtet nicht nur einen sprunghaft gestiegenen Bedarf an digitalen Hilfsmitteln und Konzepten, sondern auch eine wesentlich höhere Akzeptanz: „Das Interesse an diesen Angeboten war sehr groß, sie mussten zum Teil wiederholt werden, und sie werden künftig ganz sicher nicht mehr wegfallen. Wenn uns diese Zeit überhaupt etwas Gutes beschert hat, dann ist es dieser unglaubliche Innovationsschub. Es wurden in kürzester Zeit Tools, Programme und Plattformen entwickelt, auf die man ohne diese Notsituation noch Jahre gewartet hätte.“

Hybride Formen werden entwickelt

Für Akademiedirektor Schuh ergibt sich daraus die Aufgabe, die digital gestützten Unterrichtskonzepte, die einzelne Musiker*innen und Musikpädagog*innen in den letzten Monaten selbstständig ausgearbeitet haben, fachlich, methodisch und didaktisch zu strukturieren und weiterzuentwickeln. „Uns stellen sich folgende Fragen: Wie gehen wir mit der Digitalisierung im musikpädagogischen Bereich um? Wie bündeln wir den derzeit noch vorhandenen Innovationsschub und Innovationswillen für die Zukunft? Wie können hybride Konzepte beschaffen sein, um den Musikunterricht künftig zu bereichern?“ Schuh nimmt den starken Wunsch von Lehrkräften und Schülern wahr, einander nach einer nahezu rein digitalen Unterrichtszeit besonders im musikpädagogischen Bereich wieder persönlich begegnen zu können. Sorgen, dass das digitale Angebot den Präsenzunterricht verdrängen könnte, seien daher unbegründet.

Derzeit arbeitet die Bundesakademie gemeinsam unter anderem mit dem Verband deutscher Musikschulen an einem Modellprojekt für digital gestützten Unterricht. Bereits 2019 haben die Trossinger in Kooperation mit einer digitalen Plattform ein professionelles Studio für Teilnehmende an Lehrgängen eingerichtet: Hier bieten sie hyb­ride Formate an, eine Mischung aus Präsenzveranstaltungen und online abrufbaren Inhalten. Eine Plattform mit vorbereitenden und nachbereitenden Tutorials der Gastdozenten soll bald an den Start gehen. „Das hat den Vorteil, dass alle Teilnehmenden fächerübergreifend Einblicke in interpretatorische, methodische, technische oder geschichtliche Lerneinheiten erhalten, die von unseren vielen Gastdozenten aufgezeichnet werden, unter anderem der Blockflötistin Dorothee Oberlinger, dem Geiger Anton Steck, dem Perkussionisten José Cortijo und vielen anderen“, führt Schuh aus. Die vorbereitenden Tutorials zu Präsenzveranstaltungen hätten außerdem den Vorteil, das Einstiegsniveau der Teilnehmenden untereinander anzupassen und so eine effektivere Arbeit im Präsenzunterricht zu ermöglichen.

Zusammen mit dem Landeszentrum Musik-Design-Performance an der Musikhochschule Trossingen hat die Bundesakademie außerdem einen Masterstudiengang in sieben Phasen entwickelt, „Extended music education“, kombiniert mit dem berufsgebegleitenden Lehrgang „Musik Digital“ der Bundesakademie: Geplant ist hier eine Mischung aus künstlerischem Einsatz von Digitalität und Unterrichtsmodellen.

Das Angebot wird erneuert

Auch künftig setzt die Bundesakademie in Trossingen auf ein gemischtes Angebot: Die rein digitalen Formate werden stärker ausgebaut, vom Kurzformat bis zu bis hin zu viertägigen online-Schulungen. Dabei soll es aufgezeichnete Tutorials und Live-Tutorials mit Grundlagenvermittlung zu fachlichen, kommunikativen und organisatorischen Anwendungen beziehungsweise Apps geben.

Hinzu kommen sollen Tutorials für Fortgeschrittene zu thematischen Schwerpunkten oder einzelnen Apps sowie Online-Seminare und Diskussionsplattformen zu methodisch-didaktischen Fragestellungen und Konzepten, die gerade nach Corona bei einem Zusammenwirken von Online- und Präsenzformaten sinnvoll und umsetzbar sind – etwa in Musikschulen, aber auch im privaten Musikunterricht.

„Wichtig sind für Musikpädagoginnen und -pädagogen außerdem online-Seminare zum Kompetenzerwerb im digitalen Bereich, etwa was Methoden angeht “, erklärt René Schuh. „Der Umgang mit Gruppen zum Beispiel erfordert online ganz andere Qualitäten als eine Präsenzveranstaltung: Ich muss parallel verschiedene Informationskanäle bedienen, muss mehr Geduld aufbringen, da das Verfolgen am Bildschirm mehr Zeit benötigt und ein direktes Zeigen nicht möglich ist, und muss mich um eine für den Bildschirm geeignete Körpersprache bemühen, sprich Online-Empathie entwickeln, um das digitale Gegenüber besser einschätzen zu können.“

Flexibilität und Austausch

Auch Angebote in Zusammenarbeit mit den beteiligten Verbänden sind der Bundesakademie in Trossingen willkommen. Schuh und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schätzen die Gespräche mit dem DTKV und arbeiten gerne und seit Langem mit dem DTKV auf verschiedenen Ebenen zusammen. Ein weiterer Vorteil des digitalen Formats sei im Vergleich mit reinen Präsenzangeboten die Flexibilität in der Planung, ohne dass räumliche Verhältnisse eine Einschränkung darstellen müssten: „So können wir deutlich kurzfristiger reagieren, die personellen Ressourcen natürlich immer vorausgesetzt. Wir sind durch die Webkonferenzen jetzt auch daran gewöhnt, leichter und schneller Konzeptionen abstimmen und umsetzen zu können.“

Insgesamt sieht René Schuh trotz aller negativen fachlichen und finanziellen Folgen der Pandemie auch positive und bereichernde Aspekte, insbesondere was den Umgang der betroffenen künstlerischen oder pädagogischen Musikschaffenden mit der Pandemie angeht: „Sie sorgen mit Mut, großer Offenheit und einem hohen Kraftaufwand dafür, dass wir künftig Unterricht und Digitalität anders begreifen und einsetzen werden. Das wollen wir mit unserem erneuerten Angebot würdigen.“

Weiter Informationen unter www.bundesakademie-trossingen.de

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