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Vorwärts und nichts vergessen

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Oder nur ein bisschen, oder alles, oder warum überhaupt? – Teil 2
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„Das Kollektiv bin ich“ war vor vielen Jahren mal eine Ausstellung im Dokumentationszentrum für DDR-Alltagskultur in Eisenhüttenstadt betitelt, deren reichlich illustrierter und 170 Seiten starker Katalog mir neulich beim Aufräumen in die Hände fiel.

Seit ich im Ruhestand lebe, also nur noch 20 statt 40 Schüler habe und nur noch ein Orchester statt drei leite, ist das Aufräumen und besonders das Wegwerfen eine neues Hobby von mir geworden. Loslassen! Vergessen! Platz schaffen! Der Katalog war schon fast im Papierkorb. Aber dann musste ich doch reinsehen. Das kollektivistische Gehabe im Osten war mir schon immer suspekt: Schon als Kind wollte ich nicht in Reih und Glied stehen; ich hatte auch keine Lust, eine „Flagge“ zu hissen oder zu grüßen, das Marschieren „in Formation“ war mir tief zuwider wie überhaupt alles, was die Individualität des Einzelnen verschwinden lässt. Parteien, Gewerkschaften, Massenorganisationen: nein danke! Ich wollte ein Einzelner sein, selber denken und selber entscheiden.

Zum Glück war ich nicht allein. Das Ländchen war voll von Träumern und Individualisten, Utopisten und Weltverbesserern in einer Zeit, die jetzt vergangen ist (Joe, mach die Musik von damals nach). Fotos, Filme und Texte waren in der Ausstellung kombiniert mit allerlei Industrieprodukten, Möbeln, Alltagströdel, Büchern und Filmen. Die nahezu 50.000 Objekte erzeugten schon damals eine Fülle widersprüchlicher Gefühle zwischen verkitschtem „Ach guck mal“, romantisierendem „Weißt du noch“ und (bei mir) leisem inneren Abscheu ob der Gleichförmigkeit und damaligen Unausweichlichkeit aller dieser Dinge. Immerhin: Die eng gesetzten Grenzen dieses ehemaligen Ländchens werden ebenso wie die bescheidenen Formen der Nichtanpassung aufgezeigt ohne sofort zur ausformulierten Gesamtvollstreckung zu schreiten. Die von oben verordneten Utopien sind zu besichtigen in den verschiedenen Ausgaben von „Weltall Erde Mensch“; in bizarren, nie produzierten Prototypen der Industrie, im Weltraumrausch von Volk und Regierung und in Schülerzeichnungen, aufzeigend die gigantisch technisierte Utopie der herbeigewünschten idealen Zukunft nach dem Endsieg im Befreiungskampf der Völker. Big Brother Orwell ist da nicht weit weg. Aber der scheint sowieso immer dagewesen zu sein.

Was nutzt es, sich dreißig Jahre nach der Vereinigung weiter mit dieser kleinen DDR zu beschäftigen, mit dieser „Fußnote“ in der deutschen Geschichte? Und seien wir doch ehrlich: Manchmal haben wir sie gründlich satt, die Dissidenten ebenso wie die Ewigges­trigen, die larmoyanten Meckerer wie die euphorischen Schwärmer von blühenden Landschaften. Wozu also der Blick zurück? Und noch dazu auf Alltag und Utopie, zwei Dimensionen, die sich von vornherein gegenseitig auszuschließen scheinen. Das Utopische bleibt den großen Ideen vorbehalten, und die haben sich offenbar gründlich erledigt.

Aber gerade im Scheitern haben die vorgestellten Träume noch etwas Faszinierendes, zumal, wenn sie mit dinglicher Realität gekoppelt werden: die Standard-Einrichtung einer Schulklasse, eine nachgebaute Konsum-Verkaufsstelle, in der es auch Waren gab, die ich früher nie gesehen hatte, die aber auch die billig-trivialen Bierkästen nicht aussparte. Auch eine KITA-Einrichtung ist aufgebaut mit Wickeltisch und der immer gleichen dunkelgrünen Plastikente (sollte es wirklich flächendeckend nur dieses eine Modell gegeben haben?) und mit dem berühmten Kollektiv-Kinderklo (mehrere Töpfe in einer Reihe), welches ja allein durch seine Verwendung angeblich für die gegenwärtigen rechtsradikalen Tendenzen im Osten zuständig zeichnet. Doch Dinge sind Dinge und nur Dinge: Es möge sich jeder seinen eigenen Reim machen.

Bleibt Gundermann. Ich mochte ihn damals nicht. Er war der Liebling der Redakteurinnen aller Rundfunksender: ein „richtiger“ Arbeiter, proletarisch bis in die Klamotten, Karoraucher, jeder „Kunst“ im Sinne von Verfeinerung abhold. Ich war Arbeiterkind (gut fürs Abi) und war niemals stolz auf diese Herkunft. Zu sehr schien sie mir ein aus Armut und Unwissenheit gespeister Makel. Gundermanns von mir so empfundene „eitle“ Selbstdarstellung mit der Baggerfahrerei, diese unerträgliche Proletkult-Masche ging mir schrecklich auf den Wecker. Irgendwann kaufte ich, ohne zu wissen warum, seine CD „Der siebte Samurai“ und war gegen meinen erklärten Willen tief erschüttert. In den Texten dieser nach wie vor kunstlosen Lieder steht alles: die Utopie und das sichere Ende jeder Utopie durch den Verrat der „kleinen Leute“.

„Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd’ ich missen“, schrieb André Brie in seinem damaligen Katalogbeitrag. Daran gibt es etliches zu denken und und zu deuteln und liefert eine Erklärung für die mehr und mehr sich ausbreitende Ostalgie. Natürlich weiß es der Kopf: was verloren ist, wird wertvoll. „Wir teilen vor allem dieselben Fragen“, schrieben die Autorinnen Franziska Becker und Ina Merkel und stellen abschließend fest, dass sofort das nächste Projekt in Angriff zu nehmen sei, welches sich mit „Utopie und Alltag in der Bundesrepublik“ beschäftigen müsse. Denn es gäbe immer eine Alternative. Das stimmt natürlich: Die gegenwärtige zum Beispiel ist bei weitem nicht die schlimmste. Aber es gibt auch Alternativen, die das Gruseln lehren. Gundermann hören!

Lesetipp
Bernd-Lutz Lange und Sascha Lange: David gegen Goliath. Erinnerungen an die friedliche Revolution, Aufbau-Verlag 2019

 

 

 

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