Der Band umfasst Beiträge zum Thema Interaktion, die auf der Online-Jahrestagung der Gesellschaft für Musikpädagogik vom 18. bis 20.9.2020 und einer vorbereitenden Tagung am 26.10.2019 in Leipzig präsentiert wurden.
Die Beiträge lassen sich in fünf Bereiche einteilen, von denen der erste Studien zur Interaktion in Lehr- und Lernprozessen zusammenfasst: Timo J. Dauth und Susanne Dreßler befassen sich in ihrem bildungsphilosophisch und begriffstheoretisch ausgerichteten Beitrag mit musikpädagogischen Interaktionsprozessen im Zusammenspiel von Aneignungs- und Vermittlungsakten. Ihr Interesse gilt dabei besonders dem noch weitgehend unerforschten Verhältnis von Aneignung und Raum.
Peter Mall greift in seinem Beitrag das Konzept der Lernökologien auf. Um dieses Konzept und die Theorie unterschiedlicher Lernorte – institutionell angeleitete und von Peer-Learning und demokratischen Entscheidungsprozessen geprägte – für die Entwicklung instrumentalpädagogischer Konzepte fruchtbar zu machen, wertet er mit Jugendlichen geführte Gruppendiskussionen und mit Musikstudierenden geführte biografische Interviews aus, in deren Mittelpunkt das Üben steht.
Der Frage, inwieweit und in welcher Form Improvisationen im Gruppenimprovisationsunterricht außermusikalisch initiiert werden, gehen Andrea Welte und Jan Jachmann nach. Dazu analysieren sie unter anderem die didaktische Funktion assoziativer Bilder und Vorstellungen im Projekt „ImproKultur“ und kommen zu dem Ergebnis, dass die Assoziationsangebote der Lehrenden grundsätzlich als Ideengeber und Initiator für das gemeinsame freie Spiel fungierten und eine geteilte Intentionalität ermöglichten.
Die Reflexion von Überzeugungen ist ein Ansatz mehrerer aktueller hochschuldidaktischer Projekte. Katharina Höller und Ulrike Kranefeld entwickeln und erforschen Aufgabenformate, die bei Studierenden ein Bewusstsein für die mitgebrachten Überzeugungen im Kontext von Rückmeldesituationen zu Kompositionen von Schüler*innen anbahnen können.
Der zweite Komplex widmet sich Fragen und Beispielen zum Zusammenhang von Interaktion und Körperlichkeit: Aus einer doppelten Perspektive nähern sich Juliane Gerland und Christoph Stange der Frage, inwieweit Ritualtheorien eine theoretische Rahmung für musikpädagogische Forschung bieten können. Aus der einen Perspektive geht es um Lehr- und Lernprozesse im schulischen Kontext und der Rolle von mimetischen Prozessen in musikpädagogischen Settings. Die andere Perspektive lenkt den Blick auf Prozesse gemeinsamen Musizierens in der Elementaren Musikpädagogik.
Isabel Wullschleger untersucht in ihrem phänomenologisch orientierten Beitrag Interaktionsprozesse in musikpädagogischen Settings mit Fokus auf Musikinstrumenten mit ihren materialen, physikalischen und dinglichen Eigenschaften. Am Beispiel von akustischen Gitarren und auf der theoretischen Basis von Responsivität beschreibt sie die Rolle(n) des Instruments als responsives Ding.
Inwiefern stellen koordinative Räume Möglichkeitsräume für ästhetisches Erleben dar? Welche Rolle spielt die körperlich vermittelte Interaktion beim gemeinsamen instrumentalen Musizieren? Anhand von Videoanalysen betrachtet Bianca Hellberg mikrostrukturelle nonverbale Interaktionen in einem Ensemble von Schüler*innen und spürt Interaktionsstrukturen auf, die musikalische Koordination begünstigen können.
Constanze Rora, Nicole Besse und Nora Leinen-Peters setzen sich mit leiblich-gestischer Interaktion als Dimension des absichtsvollen Zeigens beziehungsweise des musikalischen Lehrens in musikalischen Lehr-Lernsituationen auseinander. Dass Zeigen zum einen als nonverbale leibliche Kommunikation und zum anderen als Weltvermittlung beleuchtet wird, verdeutlicht den Zusammenhang von Zeigen und Lehren. Es bildet die Grundlage für die Vorstellung, Einordnung und Erweiterung des Ansatzes von Hermann J. Kaiser, für den Zeigen Inbegriff musikalischen Lehrens ist.
Musikpädagogische Potentiale von Digitalisierung beziehungsweise Digitalität geraten immer dann in den Fokus, wenn Aspekte computer- oder online-basierten Musik-Machens beziehungsweise Komponierens untersucht werden. Die emotional starke, „zwischen den Polen Apokalypse und Euphorie“ eingespannte Aufladung des Themas der digitalen Bildung ist Ausgangspunkt der Überlegungen Jan-Peter Kochs. Einen Anknüpfungspunkt, um die Kultur der Digitalität für musikpädagogisches Denken fruchtbar zu machen, sieht er in den von Felix Stalder charakterisierten Aspekten der Referentialität, der Gemeinschaftlichkeit und der Algorithmizität.
Jan Duve untersucht mittels videobasierter Fallanalysen, inwieweit Dinge – in diesem Fall digitale Medien – Aushandlungs- und Interaktionsprozesse beim gemeinsamen Musik-Erfinden am Computer bedingen und welche Typen der Entscheidungs-Findung sich dabei rekonstruieren lassen. Im Ergebnis findet er dabei die Typen der sozialen und ästhetisch-musikalischen Konsensbildung auf der einen und die Typen des direkten und indirekten Alleinbestimmens auf der anderen Seite.
Das interaktive Kompositionsprojekt WIKI-PIANO.NET stellt Andreas Höftmann vor und untersucht dabei die didaktischen Potentiale solcher offenen, fluiden und durch die Partizipation unterschiedlichster User*innen unabschließbaren, kollaborativen Kompositionsprojekte. Er rekonstruiert, inwieweit solche Projekte einen Ursprung in den graphischen Notationsformen und der Musikphilosophie John Cages haben.
Der vorletzte Komplex setzt einen bildungs- beziehungsweise wissenschaftstheoretischen Schwerpunkt und fragt nach Aspekten wie Partizipation und Emergenz. Stefan Zöllner-Dressler geht einen recht ungewöhnlichen Weg, indem er seinen Anknüpfungspunkt bei Günther Anders’ nicht angenommener Habilitationsschrift „Philosophische Untersuchungen zur musikalischen Situation“ (1930/31) nimmt und zeigt, welche Momente (z.B. das der Eigenzeitlichkeit) dafür sorgen, dass in der musikalischen Situation eine besonders intensive Interaktion zwischen Individuen und Musik stattfindet.
Den Widerspruch zwischen zielgerichteter Planung unterrichtlicher Prozesse und der Unplanbarkeit improvisatorischer und kompositorischer Prozesse in musikunterrichtlichen Zusammenhängen versucht Peter W. Schatt aufzulösen, indem er ausführt, dass sowohl künstlerischen als auch unterrichtlichen Prozessen das Moment der Kontingenz eingeschrieben ist. Anhand einiger Unterrichtsbeobachtungen zeigt er, wie das Unverfügbare plötzlich erscheint beziehungsweise emergiert.
Stefan Orgass stellt emergenztheoretische Überlegungen an und fragt, inwieweit Hervorbringung von musikalisch Neuem in musikunterrichtlichen Zusammenhängen theoretisch erfassbar sei. Dazu expliziert er zunächst den Emergenzbegriff und verortet die Emergenztheorien von Janich und Elder-Vass, welche von den temporalen Perspektiven auf Emergenz (nach Renn) ergänzt werden.
Noch im Zusammenhang des Themas der letzten Tagung „Gelingendes Leben“ stehen die beiden den Band abschließenden Beiträge. Das Phänomen der Zeit und die Frage nach Inklusion beziehungsweise musikbezogener Teilhabe von Menschen mit Behinderung werden im Beitrag von Juliane Gerland in den Blick genommen. Sie führt verschiedene Inklusionsdefinitionen aus, analysiert behinderungsspezifische Aspekte von Zeiterleben und -verwendung und beschreibt schließlich inklusionsorientierte musikpädagogische Umsetzungsbeispiele zum Thema Zeit.
Andreas Höftmann verbindet in seinem Beitrag zwei musikpädagogische Gedankenstränge: Die von Christoph Khittl ausgearbeitete Idee des Festes als Ursprung ästhetischer Bildung und Brigitta Baranduns Arbeit zum Enthusiasmus als auratischem Faktor von Lehrkräften im Instrumental- und Gesangunterricht dienen ihm als Grundlage, um die Beziehung von Glück, Fest, Musikerziehung und Begeisterung in den Gesetzen Platons zu beleuchten und musikpädagogisch fruchtbar zu machen.
Buchtipp
Jan-Peter Koch, Katharina Schilling-Sandvoß, Andrea Welte (Hrsg.):
Interaktion, Aachen 2022, Shaker-Verlag, € 49,80