An der HMTM Hannover entwickelten Studierende Konzerte für die Jüngsten und gingen dabei musikalisch, pädagogisch und darstellerisch auf die Besonderheiten dieses Publikums ein. Aus erwachsener Sicht sind 0-3-jährige Kinder ein Konzertpublikum mit zahlreichen Besonderheiten: Es kennt die Regeln des bürgerlichen Konzertbesuchs nicht, wendet in der Musikrezeption keinen Werkbegriff an und sucht nach keiner übergeordneten künstlerischen Ebene. Kausale Zusammenhänge sind von geringem Interesse, denn jeder Moment wird einzeln wahrgenommen. Dafür verfügen Babys und Kleinkinder über ein immenses Vorstellungsvermögen und bringen eine hohe Bereitschaft mit, sich zu amüsieren und alles um sich herum wahrzunehmen. Also keineswegs anspruchslose Konzertbesucher, im Gegenteil: Sie geben den Musikern mit ihrem Verhalten stets und unmittelbar ehrliche Rückmeldungen.
Stand der Praxis
13 Studierende der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover nahmen im Wintersemester 18/19 unter der Leitung von Andrea Welte (Professorin für Musikpädagogik an der HMTMH) und Tamara Schmidt (Leiterin der Jungen Deutschen Oper der Deutschen Oper Berlin) die Herausforderung an, sich dieser Altersgruppe als Konzertpublikum pädagogisch, wissenschaftlich und künstlerisch zu nähern. Die Studierenden der Bachelor- beziehungsweise Masterstudiengänge Künstlerisch-pädagogische Ausbildung und Kinder- und Jugendchorleitung befassten sich mit wahrnehmungspsychologischen Voraussetzungen, Ansätzen verwandter Fachrichtungen (z.B. Konzertpädagogik, Rhythmik, Theaterpädagogik) und dem aktuellen Stand der Praxis.
Wurde dieses noch recht junge Praxisfeld anfangs insbesondere von der Diskussion um die Legitimation („Brauchen Babys wirklich eigene Konzerte?“) und den Zweck (z.B. „Mozarteffekt“) bestimmt, ist sie seit ein paar Jahren einer differenzierten ästhetischen Auseinandersetzung gewichen, die statt auf das Verstehen des Dargestellten auf die sinnliche Wahrnehmung abzielt – stark beeinflusst von der Initiative „Theater von Anfang an“ und der Elementaren Musikpädagogik.
Vorreiterrolle
Die Deutsche Oper Berlin gilt als eine Vorreiterin auf diesem Feld: Als eines der ersten Konzert- und Opernhäuser entwickelt sie seit 2012 mit der Babykonzert-Reihe szenische Konzertformate für die Jüngsten und ihre erwachsenen Begleitpersonen. In halbstündigen inszenierten Konzerten erleben Babys in einer großen Kissenlandschaft Musik mit allen Sinnen von maximal drei Musikern – ohne gesprochenes Wort, dafür mit behutsam eingesetzten Bühnenmitteln von Instrumenten bis Scheinwerfern und mit Musik von Bach bis Cage. Die Eltern sind eingeladen, ihre Kinder zu beobachten und in ihrer Wahrnehmung zu unterstützen.
Mit großzügiger Unterstützung der Studienkommission II der HMTM besuchten die Studierenden eines dieser Babykonzerte („Durch die Lüfte“, Konzept: Tamara Schmidt und Anna von Gehren), wo sie nach der Hospitation mit den Musikern und mit Experten des frühkindlichen künstlerischen Bereichs (z.B. Dagmar Domrös vom Theater o.N.) über Darstellungsformen, Musikauswahl und Dramaturgie diskutierten.
Konzerte für die Jüngsten bedürfen eigener Formate, die dem Wahrnehmungshorizont des Publikums entsprechen: kleine Räume ohne Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, direkte Begegnungen zwischen Musikerdarstellern und Zuhörern, eine Musikauswahl, die der kindlichen Wahrnehmung zugänglich ist und dramaturgische Bögen, in denen Musiker nicht nur Klänge, sondern auch Themen, Figuren oder Räume erschaffen. Daher ist der erwachsene Musiker auch immer zugleich Darsteller, der die Auffassung seiner Kunst durch das junge Publikum nur aus ständigem Beobachten der Reaktionen ableiten kann. Denn für die Jüngsten gehört alles zum Konzert dazu: der Eintritt in den Raum ebenso wie das Stimmen der Instrumente, der Applaus der Erwachsenen ebenso wie das bewusste Spiel. Alles hat eine Bedeutung, es findet keine Hierarchisierung nach konventionellen Konzertkriterien statt. Komplexität ist erlaubt, Handlungsstränge dienen vor allem den erwachsenen Begleitpersonen, an die sich das Konzert ebenso richtet.
Wasserspiele
Schließlich entwickelten die Studierenden in Kleingruppen eigene Musikszenen, die am Ende in zwei Konzerten aufgeführt wurden: Das Konzert „Wasserspiele“ verwandelte an einem Vormittag den Gruppenraum der CJD-Kita Hannover-Nordstadt in eine Bühne: Kinder und Erzieher gingen auf eine Reise übers Wasser und lauschten Klängen aus Instrumenten, Strohhalmen und der Stimme, bewegten sich zur Musik und bildeten das große, blaue, wabernde Meer. Am Nachmittag luden die Studierenden Eltern und ihre Kinder in die Hochschule zum Konzert „Tango for Babies“. War im ersten Konzert eine narrative Abfolge grundlegend für den Ablauf, prägten im zweiten Konzert Tango-Bewegungsabläufe und die Anordnung der Instrumente im Raum – Flügel, Posaune, zwei Celli, Geige – die Struktur. Es erklangen verschiedene Tangos, die ineinander übergeleitet wurden, aus Improvisationen entstanden oder langsam in ihrer musikalischen Struktur aufgebaut wurden. Allein mit Musik und Bewegungen, mit der bewussten Gestaltung von Atmosphäre und Spannung, aber ganz ohne Sprache, wurden die jungen Konzertbesucher behutsam von einer Szene in die nächste mitgenommen und eingeladen, mitzumachen. Erlaubt war dabei alles: krabbeln, schlafen, brabbeln oder mitsingen.
Beide Konzerte stießen auf Begeisterung: bei den Babys – hier ließen sich die Rückmeldungen nur aus Beobachtungen ableiten – auf Grund der vielen neuen, vertrauten, überraschenden, fordernden und beruhigenden Hör- und Seheindrücke; bei den Eltern und Erziehern wegen der gebannten Aufmerksamkeit der Babys beziehungsweise ihres eigenen musikalisch-ästhetischen Erlebens; und bei den Studierenden auf Grund der bereichernden Erfahrung der unmittelbaren Resonanz des ihnen bis dahin recht fremden Publikums. Die überaus positive Resonanz führt zu einer Fortsetzung des Seminars, in der Konzertformate für die nächste Altersgruppe, Kinder bis 5 Jahre, untersucht, neu erfunden und am Ende aufgeführt werden.
- In unregelmäßiger Folge berichtet die GMP unter dieser Rubrik über Projekte von GMP-Mitgliedern.