Mit der gerade erschienenen Publikation gibt die Gesellschaft für Musikpädagogik den zweiten Band der Reihe „Musikpädagogik im Diskurs“ heraus. Zusammengefasst sind hier die Ergebnisse der Tagung „Lehrer als Künstler“, die 2015 an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main stattfand.
Aus den unterschiedlichsten Praxisfeldern kommend, gehen die Autorinnen und Autoren unter anderem den Fragen nach, in welchem Spannungsverhältnis, in welcher Tradition und in welchen Typologisierungsversuchen die beiden Begriffsfelder „Lehrer“ und „Künstler“ zueinander stehen oder überspitzt formuliert: Wieviel Künstler muss ein Lehrer und wieviel Lehrer ein Künstler sein, um als eine musikpädagogisch integre, fähige und authentische Lehrerpersönlichkeit zu gelten?
Im Einführungsbeitrag geht Gundel Mattenklott der Metapher „Unterricht als Kunst“ in drei historischen Schwellenzeiten nach. Vom 17. Jahrhundert, in dem die Didaktik als Lehrkunst auf Aufwertung des Unterrichts zielt, bleibt die Gartenmetapher als Sinnbild des Lernens bis in die Gegenwart erhalten. In reformpädagogischen Ansätzen im Übergang zum 20. Jahrhundert werden der Unterricht selbst zur Kunst und der Lehrer, Wissen und didaktische Phantasie verbindend, zum Unterrichtskünstler. Mit dem Lehrstück der Gegenwart werden schließlich Verbindungslinien zur Reformpädagogik gezogen.
Katharina Schilling-Sandvoß skizziert in ihrem Beitrag, welchen historischen Wandel die Rollenerwartungen an den Musiklehrer durchlaufen haben beziehungsweise inwieweit diese (changierend zwischen musikpraktischen und wissenschaftlichen Schwerpunktsetzungen das Pädagogische vernachlässigend) aktuelle Erwartungen konstituiert haben. Sie spannt dabei den Bogen von Pestalozzis Überlegungen hin zu aktuellen Ergebnissen der Hattie-Studie. Am Beispiel des Frankfurter Musiklehrers und Komponisten Franz Xaver Schnyder von Wartensee geht Ralf-Olivier Schwarz dem Spannungsfeld musikalisch-künstlerischen und musikalisch-erzieherischen Denkens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach. Schnyder von Wartensees persönliches, durch Pestalozzi und Nägeli beeinflusstes Wirken zwischen künstlerischer Autonomie und heteronomer pädagogischer Tätigkeit stellt er in den Kontext der Professionalisierung und Institutionalisierung des Frankfurter Musiklebens.
Der Lehrer also als Künstler, Pädagoge und Wissenschaftler
Dem in Praxisberichten oft einseitig gezeichneten Lehrerbild stellt Alexander Cvetko mit Blick auf Kestenberg den in dessen Vorstellungen vielseitigen Lehrertypen gegenüber; beleuchtet den Lehrer also als Künstler, Pädagogen und Wissenschaftler im Denken Kestenbergs. Das mit Kestenbergs Reformideen verwirklichte Drei-Säulen-Modell und seine bis heute reichenden Implikationen zeichnet er anhand der „Gesammelten Schriften“ Kestenbergs nach.
Die Bedeutung der künstlerischen Qualifikation für die Ansprache von zuhörenden Kindern als musikalische Interaktionspartner untersucht Constanze Rora. Am Beispiel des Violinduos Cecilia & Martin Gelland analysiert sie Hörsituationen, in denen die Musiker im Klassenzimmer präsent sind, unter den Kategorien Intensität, Spiel, Fragen, Experiment und Offenheit und sucht nach Möglichkeiten der Übertragung der dialogischen Situation in die Schulmusik.
Susanne Dreßler geht der Frage nach, inwieweit der Musiklehrer heute, eingespannt in ein multidimensionales Netz von Erwartungen und Anforderungen, noch in der Lage ist, einem pädagogischen Ethos (hier verstanden als Eingewohntsein) gerecht zu werden. Da dieses Ethos sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Seite hat, resultieren daraus Spannungen, mit denen (das zeigt sie anhand der Analyse dreier Interviews) unterschiedlich umgangen wird; schlussendlich plädiert sie für einen entspannteren Umgang mit diesen Spannungen.
Susanne Stamm befragt Experten, um mit Blick auf die Kompetenzen für den Bereich Klassenmusizieren zu erfassen, inwieweit sich – eingespannt zwischen die Pole allgemeiner und musikbezogener (Lehr-)Kompetenzen – eine Dimensionalisierung musikbezogener Kompetenzen ergibt, in welche sich der jeweilige Musikpädagoge eingespannt sieht und wie er sich darin selbst positioniert. Stamms Studie versteht sich als explorativen Zugang zum empirisch wenig durchdrungenen (Forschungs-)Bereich Klassenmusizieren.
Einen Blick aus Sicht der Waldorfpädagogik auf den Musiklehrer als Erziehungskünstler wirft Holger Kern. Nach einer Genese waldorfpädagogischer Erziehungskunst leitet er aus einzelnen Aspekten in Texten Rudolf Steiners dessen Erziehungskunst-Verständnis ab, in dem die Nähe künstlerischer und pädagogischer Prozesse sichtbar wird und der künstlerische Mensch Ausgangs- und Zielpunkt darstellt.
Um das Verhältnis von Kunst und (Musik-)Pädagogik grundlagentheroretisch zu beleuchten, unternimmt Adrian Niegot eine geltungsreflexive Klärung der Begriffe der „Andersheit“ und der „Anverwandlung“. Dazu zieht er Überlegungen aus den Bereichen der philosophischen Anthropologie, der Systemtheorie, der Kunstsemiotik und der Bildungstheorie ein und entwickelt Relevanzen für eine Theorie musikbezogener Bildung.
Ausgehend von Jaques Rancière rückt Lukas Bugiel den Gedanken einer emanzipatorischen Konzertpädagogik in den Fokus seiner Überlegungen. Das zu entwickelnde emanzipatorische Moment sieht Bugiel hier vor allem in der „Logik der Verdummung“ begründet; man setze voraus, Ungleichheit der Intelligenzen oder intellektuellen Fähigkeiten durch Vermittlung entgegenwirken zu müssen. Eine „Pädagogik emanzipatorischer Logik“ wiederum muss der „Logik der Verdummung“ entgegengesetzt werden. Die daraus resultierende emanzipatorische Konzertpädagogik nimmt die Ko-Aktivität des Zuhörers und die Gleichheit aller Intelligenzen zum Ausgangspunkt.
project.worx
Der Bericht von Volker Schindel stellt ein seit einigen Jahren erfolgreich an der Universität Kassel unter dem Titel „project.worx“ durchgeführtes Projektarbeits-Modul vor. Das jeweilige, von den Studierenden selbst konzipierte und zwischen den Bereichen Musik, Sprache und szenischer Darstellung eingespannte Projekt hat die Aufführung im öffentlichen Rahmen zum Ziel.
Um die möglichen ästhetischen Qualitäten des Klassenmusizierens aus Sicht des Lehrenden geht es Johannes Steiner in seinem Beitrag. Er sieht gelingendes Klassenmusizieren eingespannt zwischen Experimentieren mit ungewissem Ausgang, situativem Handeln und forschendem Lernen und beschreibt abschließend ein Projekt zur musikalischen Szenengestaltung an der Universität Wien.
Joachim Junker berichtet von zwei Projekten am Hohenstaufen-Gymnasium Kaiserslautern, in denen Tablet-PCs kreativ im Musikunterricht eingesetzt worden sind. Er zeigt anhand der Unterschiedlichkeit beider Projekte, wo die Anwendungsmöglichkeiten der unterschiedlichen Musikapps liegen und deutet an, welche musikdidaktischen Konsequenzen sich daraus ergeben.
Wie das künstlerische und kreative Potential des Musikunterrichts für das Songwriting mit Schülern genutzt werden kann, ist Thema des Beitrags von Jan-Peter Koch. Er reflektiert die Chancen exemplarischen Lernens und die grundlegenden Qualifikationen der Lehrenden dabei, analysiert die Grenzen theoretischer und didaktischer Anleitungen zum Komponieren mit Schülern für die Komposition von Popmusik und entwirft an einem Beispiel aus der eigenen Schulpraxis ein Grundgerüst popmusikalischer Kompositionsprozesse.
Eine qualitative Studie, die versucht, Momente ästhetischer Erfahrung anhand des gewonnenen Datenmaterials zu rekonstruieren, stellt Elias Zill vor. Besonderes Augenmerk legt er dabei auch auf das Rollenbild des Komponisten als Lehrenden, weil im Rahmen des Projektes Leipziger Komponisten über ein Jahr hinweg mit einer Schülergruppe arbeiteten.
In der Zusammenschau der verschiedenen Beiträge, die das Thema auf historischer, systematischer oder projektskizzierender Ebene in den Fokus nehmen, wird einmal mehr der transdisziplinäre Ansatz der Gesellschaft für Musikpädagogik deutlich.