„Kunst ist ein Laboratorium und ebenso ein Fest ausgeführter Möglichkeiten“ – Ernst Bloch wird nicht müde, das utopische Potenzial insbesondere von Musik mit ihrem speziellen Gegenstandsbezug hervorzuheben. Als ein Beispiel gilt ihm die Musik in der Befreiungsszene der Oper Fidelio, die als Vor-Schein künftiger Freiheit an den Grenzen zu einer Neubildung der Menschheit stehe. Ob allerdings der Vor-Schein einer besseren Welt, wie ihn die Künste geben können, im Bereich des Ästhetischen verbleibt oder auch „nur einigermaßen praktisch“ wird, darüber werde außerhalb von Kunst in der Gesellschaft entschieden.
Könnte und sollte Musikpädagogik ein solcher Ort sein, an dem der utopische Kern von Musik thematisiert und als bildender Einfluss auf Individuum und Gesellschaft zur Geltung gebracht wird? Die Frage ist nicht neu und hat im Verlauf der Geschichte musikalischer Bildung eine Vielzahl von Antworten gefunden. Die ‚Wiederherstellung der Einheit von Kunst und Leben‘ (Jöde), das ‚Ermöglichen eines transzendentalen Kunsterlebnisses‘ (Halm) oder auch die ‚Einsicht in die Gestaltbarkeit der Welt‘ (v. Hentig) können hier als prominente Beispiele für (musik)pädagogische Zielformulierungen mit utopischem Überschuss gelten. Mit den konzeptionellen Schlüsselphrasen korrespondieren jeweils sowohl eigene musikalisch-künstlerische Konzepte als auch pädagogische Praxisformen.
Im hier und jetzt?
Seit Mitte der 1970er Jahre sind Formulierungen dieser Art nicht nur unter den kritischen Vorbehalt ihrer Überprüfbarkeit gestellt, sondern fallen darüber hinaus unter ein Verdikt erziehungswissenschaftlichen Denkens, das utopischen Entwürfen insgesamt eine Absage erteilt, weil diese nicht anders als aus dem Hier und Jetzt einer gesellschaftlichen Gegenwart heraus formuliert werden können, auf das sie bezogen bleiben. Utopien entstehen aus einem normativen Anspruch: Indem sie sich kritisch zur Gegenwart verhalten und daraus ihren Entwurf einer besseren Zukunft ableiten, vollziehen sie den naturalistischen Fehlschluss, das Sollen vom Bestehenden abzuleiten. Diese Feststellung lässt sich allerdings zugleich mit anderer Betonung aussprechen: Utopien haben einen kritischen Kern. Kritik als Ausgangsimpuls für den Entwurf neuer Sichtweisen und Möglichkeiten sind für (musikalische) Bildungsentwürfe wesentlich. Der Ablehnung utopischer Bildungsansprüche, die auch einer Skepsis gegenüber den mit Utopien nicht selten verbundenen totalitären Haltungen entspringen kann, zum Trotz, bricht sich utopisches Denken in (musik)pädagogischen Kontexten wiederkehrend Bahn. Ohne den Impuls, Neues zu beginnen oder sich offen für Neues zu halten, wäre wohl auch jedem pädagogisch-konzeptionellen Denken und Handeln aller Wind aus den Segeln genommen.
Entwürfe konzipieren
Es liegt so gesehen nahe, wenn musikpädagogische Entwürfe ihre Zielperspektiven über pragmatische Problemlösungen hinaus konzipieren und immer wieder zu Neuansätzen kommen. Kritische Haltungen gegenüber der musikalischen und musikpädagogischen Gegenwart sind darin mitunter impliziert: So könnte der utopische Entwurf einer partizipativen Musikpädagogik seinen Anstoß in der kritischen Frage haben, ob pädagogisch-praktische Prämissen – wie etwa, den jeweils neuesten Hit im Unterricht zu musizieren oder im Rahmen von durch Schüler*innen gestalteten Musikprojekten die Entwicklung von organisatorischem Geschick und Entrepreneurship in den Vordergrund zu stellen – nicht unbeabsichtigt Anpassung über Mündigkeit stellen.
Die Frage nach der Konstellation Musik – Utopie – Bildung nimmt berufsspartenübergreifend die Ziele oder auch die Suchbewegungen von (Neu-)Ansätzen in den Blick, die auf der Ebene der Gestaltung musikalischer und musikpädagogischer ebenso wie auf der Ebene theoretischer, wissenschaftlicher und inter- beziehungsweise transdisziplinärer Praxen liegen können. Welche utopischen Potenziale bieten zum Beispiel
- aktuelle musikalische und künstlerische Phänomene (bzw. ‚Laboratorien‘)?
- auf neue Medien und technische Innovationen bezogene Praxen?
- unterrichtliche Inszenierungen?
- informelle musikbezogene Bildungspraxen?
- interdisziplinäres musikbezogenes Lehren und Lernen?
- wissenschaftliches Denken, Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftspropädeutik?
- Kooperationen musikkultureller Institutionen?
- Vernetzungen von Akteuren und Handlungsfeldern (in) der Musikpädagogik?
- Neuformatierungen musikbezogener historischer Sinnbildungen?
- musikbezogene Begriffe, Theorien und Reflexionspraxen?
etc.
Vorbereitungtagung
Diesen und weiteren Fragen widmet sich die öffentliche Jahrestagung 2022. Vorbereitend wird am 11.09.2021 eine eintägige, digitale Arbeitstagung stattfinden, die der Diskussion der Exposés für die Tagung im März 2022 dient.
Interessentinnen und Interessenten reichen bitte ihr ein- bis zweiseitiges Exposé bis zum 15. April 2021 ein und halten sich neben dem oben genannten Termin im März 2022 auch bitte den im September 2021 frei.
- constanze.rora [at] hmt-leipzig.de (constanze[dot]rora[at]hmt-leipzig[dot]de)