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Musikkulturen und Lebenswelt

Untertitel
Band 3 der Reihe GMP-Reihe Musikpädagogik im Diskurs
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Mit der soeben erschienen Publikation gibt die Gesellschaft für Musikpädagogik den dritten Tagungsband der Reihe „Musikpädagogik im Diskurs“ heraus. Zusammengefasst sind hier die Ergebnisse der Jahrestagung „Musikkulturen und Lebenswelt“, die 2016 in Kooperation mit dem Institut für europäische Musikethnologie an der Universität zu Köln stattfand.

 Die vorliegenden Beiträge lassen sich in vier Bereiche gliedern, von denen der erste Studien mit musikbezogenen ethnologischen beziehungsweise kulturreflexiven Schwerpunkten zusammenfasst: Alexander J. Cvetko zeigt mit seinem Text, inwieweit der Philosoph Wolfgang Welsch den in der Musikpädagogik gern und häufig rezipierten Polyhistor und Musikliebhaber Johann Gottfried Herder unachtsam fehlinterpretiert hat; eine Fehlinterpretation, die in der musikpädagogischen Forschung (leider) fortgeschrieben wurde. Cvetko weist nach, dass der Kulturbegriff Herders keinesfalls hermetisch ist und stellt berechtigt die Frage, welche Bildungsziele sich eine interkulturell orientierte Musikpädagogik heute zu stellen hat.

Unter dem Titel „Musikethnologische Forschung als Teil der Lehre“ geht Klaus Näumann der Frage nach, ob und inwieweit musikethnologische Veranstaltungen zwingend auch in die Ausbildung von Lehramtsstudierenden gehören. Er weist darauf hin, dass erfreulicherweise in den letzten Jahren neue Professuren für diesen Bereich an diversen Hochschulen und Universitäten entstanden sind und dass es immer häufiger auch mit musikethnologischen Feldforschungen verknüpfte Lehrveranstaltungen gibt.
Andreas Kloth widmet sich in seinem Beitrag „Wiederentdeckung, Neuerfindung und Übernahme deutscher Kultur – Die Transformation russlanddeutscher Chöre auf der Krim“ den von deutschen Minderheiten gegründeten Chören auf der Krim. Er zeichnet dabei Repertoire und Geschichte der Chöre nach und untersucht, welche Funktionen sie für die heutigen Teilnehmer/-innen haben.

Am Beispiel von Modenschaumusiken geht Christina Zenk Verflechtungen von Musik, Mode, Performativität und Lebenskultur nach. Ausgehend von einer Klärung der Begriffe und der Analyse von Bühnenauftritten konkretisiert sie zunächst die Verschiedenheit kultureller Kontexte, um dann Möglichkeiten der Einbindung dieses für Schülerinnen und Schüler lebensweltrelevanten Themenfeldes in den Musikunterricht zu skizzieren.

Der zweite Bereich widmet sich Fragen und Beispielen der dynamischen Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden: Oliver Kautny zieht einen kritischen Vergleich zwischen einem Modell musikbezogener interkultureller Kompetenz und unterschiedlichen Studien zur Offenohrigkeit. Seine Analyse verdeutlicht, dass für die Aneignung musikbezogener interkultureller Kompetenz ein spezifisches Zusammenspiel ethischer und ästhetischer Ansprüche erforderlich ist.

Christoph Stange geht der dynamischen Differenz zwischen Eigenem und Fremden auf der Ebene des Körpers nach, indem er die Bedeutung von Bewegung für die Begegnung mit Musik hervorhebt. In der Bewegung zu Musik auf körperlicher Ebene vollziehen sich Prozesse der Einschreibung und der Ausschreibung, die kreative Freiräume öffnen.

Der Umgang mit Vielfalt, die Anerkennung des Anders-Seins unter Beachtung des Verbindenden sind Themen des Aufsatzes von Daniela Laufer. Statt über Menschen mit Behinderung zu schreiben, lässt sie Lebensweise, Lebenswelt, Erlebens- und Erfahrungsräume dreier Musiker mit Behinderungen anhand von Primärquellen aus deren eigener Sicht entstehen.

Ralf-Olivier Schwarz geht der Kategorie des Fremden zunächst aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik nach, da für den Umgang mit Geschichte der Aspekt des Fremdverstehens bestimmend ist. Die geschichtliche Prägung gegenwärtiger Lebenswelten konkretisiert er durch Beispiele des Umgangs mit Musikgeschichte in kulturellen und schulischen Zusammenhängen.

Zu einem dritten Bereich werden Beiträge zusammengefasst, in denen es um Fragen der Vermittlung von Musik im Spannungsfeld zwischen Vertrautsein und Fremdheit geht. Ein allgemeines Problem in diesem Bereich stellt die Frage nach der Stellung des Lehrers zu der von ihm jeweils vermittelten Musikkultur dar. Ausgehend von der Frage, ob Schüler zu einer ästhetischen Erfahrung mit Musik angeregt werden können, wenn der Unterrichtende mit der betreffenden Musikkultur nicht „von innen“ vertraut ist, setzt sich Jan-Peter Koch mit Begriff und Anspruch von pädagogischer und künstlerischer Authentizität auseinander.

Beim Besuch eines klassischen Konzertes handelt es sich für die Schüler nicht selten um die Begegnung mit einer fremden Kultur und in musikpädagogischer Perspektive damit um eine Gelegenheit, Kinder und Jugendliche zu kultureller Offenheit zu erziehen. Anselma Lanzendörfer und Katharina Schilling-Sandvoß beschreiben ein konzertpädagogisches Projekt der Alten Oper Frankfurt, bei dem Studierende in Workshops Schüler auf einen Konzertbesuch vorbereiten.

Der Frage, wie Musikkulturen Lateinamerikas in Musiklehrwerken für die Primarstufe vorkommen, wendet sich Claudia Cvetko zu, indem sie Lehrwerke analysiert und insbesondere auch die his­torische Dimension berücksichtigt. In ihrer Untersuchung zeigt sich, dass die Zielperspektiven interkultureller Musikpädagogik in der Praxis alles andere als eindeutig sind.

Thomas Greuel und Marichen van der Westhuizen beziehen sich in ihren beiden Beiträgen auf ein Exkursionsangebot nach Südafrika für Studierende der Evangelischen Fachhochschule Bochum, die dort mit Studierenden des Hugenote College Wellington zusammentreffen. Angestrebt ist dabei eine Initiierung und Unterstützung interkultureller Lernprozesse bei den Studierenden beider Einrichtungen. Der erste Beitrag umreißt neben der Skizzierung der Projektstruktur auch die damit verbundenen Forschungsanliegen. Im zweiten Beitrag steht die theoretische Ausarbeitung der sozialen Dimension des Musikmachens im Mittelpunkt.

Auch in dem Beitrag von Georg Brunner und Susanne Kittel spielt die musikalische Begegnung über nationale Grenzen hinaus eine zentrale Rolle. Das groß angelegte Erasmus Projekt Musik kreativ+ setzt den pädagogischen Fokus auf die Zielperspektive Kreativität und Entrepreneurship. Die Auseinandersetzung mit afrikanischer und mit neuer Musik als Bereiche des musikalisch Unvertrauten gibt den beteiligten Jugendlichen hierzu entscheidende Impulse.

Dezidiert national gibt sich hingegen das venezolanischen Folkloreprojekt Alma Llanera, das 2011 als Erweiterung zu dem staatlich unterstützten Sozial- und Kulturprogramm El Sistema eingerichtet wurde. Andrea Bießmann, die das Programm in ihrem Beitrag vorstellt und einer kritischen Analyse unterzieht, gelangt zu einer differenzierten Antwort auf die Frage nach dem Spannungsgefälle zwischen fremder und eigener Musikkultur, das sich auch in diesem Projekt bemerkbar macht.

Als vierter Bereich finden sich Auseinandersetzungen mit Musikkulturen an der Schnittstelle von Medialität und Lebenswelt: In seinem Aufsatz „Mediatisierung, Lebenswelt und Musikunterricht“ geht Philip Ahner der Frage nach, inwieweit digitale Medien und deren ausdauernde Nutzung durch Kinder und Jugendliche auch musikpädagogisch relevant sind. Hierbei geht es ihm (auch) darum, zu zeigen, welche informellen Lernprozesse und Selbstsozialisationsmomente in diesen Zusammenhängen stattfinden.

Christoph Jost widmet sich gleichfalls einer im Bereich der digitalen Medien angesiedelten Form des Musiklernens und untersucht das Verhältnis von Interkulturalität, Medialität und schulischer Bildung am Beispiel von Social Media. Er bezieht dabei mit Hilfe eines typenbezogenen Ansatzes Interkulturalität und digitale Medien aufeinander und verdeutlicht dies am Beispiel zweier auf Youtube am häufig zu sehenden (musikalischen) Handlungstypen.

Dass die Musikpädagogik digitalen Medien und ihrer Anwendung nicht nur resignativ gegenübersteht, verdeutlicht Marc Godau, indem er in seinem Aufsatz unter anderem Ergebnisse einer explorativen Studie zum Lernen mit Smarttechnologien in Musik-AGs vorstellt. Dabei geht er zum Beispiel auch auf den Stand der Erforschung soziotechnischer Musikpraxen ein, wobei er zeigt, dass Musiklernen heute auch verortet werden muss als situiert in soziotechnischen Musikpraxen.

  • Jan-Peter Koch, Constanze Rora, Katharina Schilling-Sandvoß (Hrsg.): Musikkulturen und Lebenswelt. Aachen 2018: Shaker-Verlag, 49,80 €
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