Ilona Schmiel ist Intendantin der Tonhalle-Gesellschaft Zürich AG, verantwortlich für das Tonhalle-Orchester Zürich sowie den Konzertsaal Tonhalle Maag. Zuvor war sie unter anderem Intendantin und Geschäftsführerin des Beethovenfestes Bonn und künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des Bremer Konzerthauses. Musikvermittlung ist ihr ein Herzensanliegen. 2018 wurde sie in der Kategorie „Charakter“ des „Junge-Ohren-Preises“ als Persönlichkeit ausgezeichnet, die an den unterschiedlichen Stationen ihrer Karriere programmatisch wie strukturell wegweisende Akzente für Musikvermittlung als essenziellen Bestandteil von Kulturinstitutionen gesetzt hat.
Andrea Welte: Auf eurer Website habe ich gelesen, dass aufgrund der Pandemie alle Konzerte bis Ostern für Publikum geschlossen sind. Wie wirkt sich die aktuelle Situation für euch aus?
Ilona Schmiel: Es ist eine sehr herausfordernde und anstrengende Situation. Normalerweise agieren wir proaktiv auf Jahre hinaus. Nun hoffen wir auf Öffnungsszenarien mit Publikum ab April. Wir sehnen uns nach Live-Auftritten! Alles, was wir jetzt proben und aufnehmen, tun wir mit dem Fokus auf unseren Chefdirigenten Paavo Järvi und im Hinblick darauf, ein großes Ensemble auf die Bühne zu bringen. Denn das sinfonische Orchester leidet am meisten, wenn man wochenlang nicht auf der Bühne zusammen spielen kann. Dafür suchen wir Wege, um höchste Qualität trotz schwieriger Rahmenbedingungen zu erreichen.
Welte: Was zeichnet für Dich Live-Konzerte aus?
Schmiel: Live-Konzerte haben eine ganz besondere Qualität. Sie sind der einzige Weg, um Interaktion im Saal zu spüren. Dieser Energieaustausch kommt nur zustande, wenn sowohl Künstler als auch Publikum sich im Saal befinden. Das funktioniert per Streaming aus meiner Sicht nur eingeschränkt. Digitale Angebote werden auch nach der Pandemie wichtiger Bestandteil des Angebotes bleiben, aber zusätzlich zur Live-Veranstaltung, die prioritär ist. Unsere Arbeit ist abhängig von physischer Nähe! Social Distancing ist gegen die Kunst und vor allen Dingen gegen die Musik gerichtet.
Welte: Studien zeigen, dass nur 5 bis 15 Prozent der Bevölkerung in Europa und den USA regelmäßig in klassische Konzerte gehen und beschreiben die durchschnittlichen Konzertbesucher als weiß, 55 plus, wohlhabend und gebildet. Wer ist euer Publikum?
Schmiel: Die Studien entsprechen durchaus unseren Erfahrungen. Aber dadurch, dass wir seit Jahren sehr vieles im Bereich der Musikvermittlung anbieten, hat sich bereits einiges geändert. Ein großer Teil der Elterngeneration der jetzigen Kinder ist nicht mehr mit klassischer Musik aufgewachsen. Da diese Erfahrung fehlt, fangen wir bei den Kindern an und erreichen über sie auch die Eltern und Großeltern. Wir versuchen, langfristige Bindungen generationenübergreifend aufzubauen, an die klassische Musik generell, an unser Orchester, aber auch an unseren Konzertsaal. Das ist ein andauernder Prozess, der immer wieder kritisch hinterfragt werden muss, um erfolgreich zu sein.
Welte: Es tut gut zu hören, wie wichtig euch Musikvermittlung ist. Und ich habe auf der Website gesehen, was für tolle Angebote es gibt. Was ist Dein Lieblingsprojekt?
Schmiel: Eines meiner Lieblingsprojekte sind die Schülermanager. Ich bin überzeugt, dass es sehr wichtig ist, im Managementbereich guten Nachwuchs heranzuziehen. In dem Projekt werden Schüler in acht Monaten befähigt, ihr eigenes Konzert zu konzipieren und zu veranstalten. Es reicht nicht aus, die tollsten Künstler auszubilden – die Musikhochschulen auf der ganzen Welt sind voll von ihnen. Aber für welchen Markt der Zukunft bilden wir sie eigentlich aus? Dafür brauchen wir junge Menschen, die Lust haben, sich mit der klassischen Musik, der Ökonomie und zukunftsfähigen Rahmenbedingungen im 21. Jahrhundert bereits in ihrer Schulzeit auseinanderzusetzen. Positive Erfahrungen aus diesem Projekt begeistern sie auch für berufliche Perspektiven im Kulturbereich.
Welte: Heißt das, Du denkst Audience Development und Bildung zusammen?
Schmiel: Ja, weil es sich um einen Kreislauf handelt: Bildung und Kultur. Und Kultur wird ohne wirtschaftliche Zusammenhänge nicht funktionieren. Diese Zusammenhänge setzen wiederum Bildung und positive Erfahrungen in unserem Bereich voraus. Dieser Kreislauf ist durch die Pandemie empfindlich unterbrochen. Je weniger stattfindet, desto mehr kann man es in Frage stellen. Je kleiner Ensembles auf der Bühne werden, desto mehr wird ein großes Symphonieorchester auch in Frage gestellt. Für die politische Legitimation unserer Arbeit ist es wichtig, jetzt alles zu tun, um weiterhin sichtbar zu sein. Dafür müssen wir auch neue Modelle entwerfen.
Welte: Muss die klassische Musik vielleicht neu gedacht werden? Oder geht es um eine neue Vermittlung?
Schmiel: Es geht um eine neue Vermittlung. Es gibt, glaube ich, keine Institution, die sich nicht über Musikvermittlung und Audience Development permanent Gedanken macht. Aber wir müssen mehr dafür tun, um auch in Krisenzeiten mit digitalen Angeboten kulturelle Bildung zu ermöglichen. Im besten Fall ist es so, dass Bildungs- und Kulturinstitutionen daran zusammenarbeiten.
Welte: Ich beobachte, dass die soziale Benachteiligung im vergangenen Jahr gewachsen ist, also die Schere noch weiter auseinander geht. Das ist natürlich ein Problem, wenn man sich um Teilhabe bemüht und Zugänge zu klassischer Musik schaffen möchte.
Schmiel: Absolut. Und deswegen müssen die Aktivitäten in den sozialen Medien erweitert werden. Aber diese müssen letztlich dazu führen, live zu uns in den Konzertsaal zu kommen. Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Aber natürlich müssen wir uns auch Gedanken über die Konzertform an sich machen. Wir müssen in diesem 21. Jahrhundert mit unseren Angeboten eine noch wichtigere Rolle spielen.
Welte: Zwei Konzepte werden gerade besonders lebhaft diskutiert: Audience Engagement und Community Engagement. Inwiefern sind das Themen für euch und wie kann Partizipation gelingen?
Schmiel: Wir haben im Bereich der zeitgenössischen Musik sehr gute Erfahrungen damit gemacht, Zuhörer in entstehende Werke, aber auch in Improvisationen einzubeziehen. Dafür gibt es eine große Offenheit.
Welte: Welche Rolle spielt der Aufbau von nachhaltigen Beziehungen zu verschiedenen Communities in der Stadt für euch?
Schmiel: Das ist ein wichtiges Thema. Wir befinden uns derzeit in unserem Provisorium Tonhalle Maag. Hier haben wir neue Zielgruppen erreicht, weil wir mit einem Konzertsaal in ein Gebiet gekommen sind, in dem es vorher keinen gab. Wir sind tatsächlich ein ‚In-Ort‘ geworden. Das Gebäude ermöglicht aufgrund seiner Architektur ein niederschwelliges Arbeiten. Eine schwierige, aber spannende Frage ist, wie wir das neu gewonnene Publikum mitnehmen können in die sehr etablierte, renovierte Tonhalle am See.
Welte: Ihr überlegt also nicht, an welche sozialen Brennpunkte ihr euch begeben wollt, sondern versucht ganz pragmatisch, diejenigen, die ohnehin um euch herum sind, einzubeziehen?
Schmiel: Pragmatismus ist in diesen Zeiten das alleroberste Gebot. Es wäre ein fataler Fehler, alle beglücken zu wollen. Aber wir begeben uns auch in soziale Brennpunkte in manchen Gemeinschaftszentren. Dort erreichen wir ein zusätzliches Publikum.
Welte: Ist klare Beschränkung etwas, das wir aus der Krise lernen können?
Schmiel: Aus der Krise kann man nur lernen, mit viel Mut in die Zukunft zu gehen. Ich wünsche mir, dass viele Künstlerinnen und Künstler es schaffen, die Krise zu überstehen und im besten Sinne aus der Krise Neues schaffen. Wir brauchen Überzeugung und Fokussierung, damit das Rad nicht wieder zurückgedreht wird. Und wir müssen an Themen wie zum Beispiel Umgang mit Nachhaltigkeit, die wir vor der Pandemie bereits auf dem Tisch hatten, jetzt unmittelbar anknüpfen.
Welte: Letzte Frage: Woher kommt Deine sagenhafte Energie, was treibt Dich an?
Schmiel: Musik ist für mich die unmittelbarste und berührendste Kunstform. Die Erfahrungsmöglichkeiten von Musik als einer sehr persönlichen und erfüllenden Kunstform auch für die nächsten Generationen überlebensfähig zu machen, das ist mein Antrieb.
Moderation und Fragen: Andrea Welte