Das Verlassen bewährter Ordnungen, Verfahren und Wertkategorien ist riskant, weil es dabei, wie die Erfahrung lehrt, nie nur etwas zu gewinnen, sondern immer auch etwas zu verlieren gibt. Vielleicht ist auch aus diesem Grund das Adjektiv „utopisch“ im alltäglichen Sprachgebrauch eher negativ besetzt: Mit ihm wird Skepsis dort angemeldet, wo weitreichende, umstürzende Änderungsideen geäußert werden.
Der Vorwurf des Utopischen stellt dabei allerdings weniger die Attraktivität des Wunschziels in Frage als seine Erreichbarkeit. Utopien als Nicht-Orte zielen auf Möglichkeiten, die bisher nur gedacht sind und für deren Umsetzung es in der gegenwärtigen Realität kein zuverlässiges Anschauungsmodell gibt. Sie übersteigen das Erfahrungswissen, indem sie allein vom theoretisch Möglichen ausgehen. Ein derart die Erfordernisse und Ansprüche des Hier und Jetzt überschreitendes Wunschdenken setzt sich leicht dem Vorwurf der Belanglosigkeit aus oder – betrifft es die Gestaltung des konkreten pädagogischen Handelns – sogar dem der Verantwortungslosigkeit. Doch stellen Zweifel an seiner Relevanz für die Lösung konkreter Probleme nur eine Seite utopischen Denkens dar. Das praktische Wissen auszublenden zugunsten eines Tagtraums bislang ungedachter oder unentfalteter Potenziale stellt eine Fähigkeit dar, die durchaus nützlich sein kann. Routinen und Praktiken kritisch zu hinterfragen und davon ausgehend die Wirklichkeit neu zu denken, gibt – auch wenn eine Umsetzbarkeit zunächst infrage steht – Impulse für sinnvolle Innovationen.
Die Musikpädagogik profitiert seit jeher von utopischen Überbietungen vorhergehender Praktiken in ihren pädagogischen, wissenschaftlichen und musikalisch-ästhetischen Feldern. Für ihre Tagungen 2021 und 2022 hat sich daher die GMP die Aufgabe gestellt, Ansätze utopischen Denkens beziehungsweise Bezugnahmen auf solches in der Musikpädagogik zu Wort kommen zu lassen. Am 11. September 2021 trafen sich 28 Referent*innen zu einer digitalen Arbeitstagung, auf der sie sich gegenseitig ihre Entwürfe zu dem Thema vorstellten, deren Ausarbeitungen dann auf der GMP Jahrestagung in Hannover im März 2022 zu hören sein werden. Um ungeachtet der großen Zahl der Beteiligten eine Situation kommunikativer Konkretheit herzustellen, fand die Diskussion der eingereichten Exposés in vier Gruppen statt, deren Zusammenstellung jeweils unter ein die Beiträge verbindendes Motto erfolgte.
Unter dem Titel „Utopie in globalen und sozialen Räumen“ fanden sich Themen zusammen, die Musikpädagogik in den Kontext gesellschaftlichen Veränderungsbedarfs stellen. Ein thematischer Schwerpunkt, dem sich gleich zwei Beiträge aus ähnlicher inhaltlicher Perspektive näherten, war die Frage nach einer klimabewussten, nachhaltigen Musikpädagogik. Auch wenn die Möglichkeiten der Musikpädagogik zum Klimaschutz beizutragen zunächst utopisch anmuten, so sind doch schon konkrete Überlegungen und Ergebnisse auf der Seite www.musik-klima.de rezipierbar. Weitere Aspekte utopischer Potentiale heutiger Musikpädagogik werden in der Gendersensibilität, der Frage nach einer diskriminierungskritischen, global orientierten Musikpädagogik sowie in der diagrammatischen Suche nach prospektiven Wissens-Praxen als neuem Denk- und Handlungsfeld moderner, zukunftsorientierter Musikpädagogik gesehen.
Zur Frage nach „Utopie in didaktischen Räumen“ wurden Beiträge eingebracht, die sich der unterrichtlichen Praxis zuwenden. Gleich mehrfach ging es dabei um utopische Potentiale von Unterrichtsgestaltung. Bleibt ergebnisoffener Unterricht eine Utopie oder kann im Musikunterricht der Veränderlichkeit von Ideen, Wünschen und Handlungen aus dem Augenblick heraus Rechnung getragen werden? Kann es gelingen, in Situationen musikalischen Handelns mediopassive Haltungen, ein Schweben zwischen Aktivität und Passivität, absichtsvoll hervorzubringen? Beide Fragen zielen auf atmosphärische Bedingungen und eine Intensität des Moments. Unterrichtplanung lässt sich durchaus als „Mikro-Utopie“ verstehen, in der die pragmatische Notwendigkeit nicht immer mit normativen Setzungen in Übereinstimmung zu bringen ist. Zu den wichtigsten reflexiven Handlungen und Interaktionen in musikpädagogischen Praxen und musikpädagogischen Forschungspraxen gehört die Bestimmung des evaluativ und normativ Gesollten. Dieser Blick lässt sich auf das utopische Potential individueller Sichtweisen von Studierenden bezüglich guten Musikunterrichts für die Musiklehrer*innenbildung ebenso richten, wie auf das dem Musikunterricht häufig zugesprochene besondere Potenzial im Rahmen inklusiven Unterrichts und den damit verbundenen Anforderungen und Ansprüchen. Die musikalisch-künstlerische und musikpädagogische Verbindung von Digitalisierung und Internationalisierung beschreibt dagegen keine Utopie, sondern eine reale Möglichkeit der Gegenwart.
Einen Fokus auf die musikalisch-künstlerische Dimension musikpädagogischen Handelns setzen Entwürfe unter dem Stichwort „Utopie in ästhetischen und kommunikativen Räumen.“
Inwiefern können künstlerische Utopien in Musik, wie sie etwa von Charles Ives oder Trond Reinholdtsen entworfen wurden, Modelle für musikpädagogisches Handeln sein? Wie lässt sich das Topische als das, was konkret lokalisiert werden kann, kommunikativ ins Zentrum eines Musikunterrichts rücken, der Freiheit anstrebt und die Freiheit des Menschen auch in musikalisch-ästhetischer Hinsicht respektiert? Musikalischer Improvisation werden häufig utopische Potenziale zugeschrieben, und speziell die Gruppenimprovisation gilt als soziale Utopie, als Ort von Freiheit und Gleichberechtigung. Es lohnt zu ergründen, inwiefern solche Absichten in der musikpädagogischen Improvisationspraxis wiedergefunden werden können. Was wird in kollaborativen Improvisationsprozessen deutlich und wie erleben die Beteiligten die Praxis? In der musikpädagogischen Praxis spielt der Umgang mit Heterogenität eine wichtige Rolle. Es ist eine spannende Aufgabe zu erforschen, welche Sichtweisen und Ansätze für das instrumentale Musizieren in heterogenen Gruppen hilfreich sein können und was das Konzept der psychologischen Sicherheit in diesem Kontext bedeuten kann. Musikalisch-künstlerisch lässt sich ein breites Spektrum an Möglichkeiten ausloten, was und wo Heimat sein und wie sie klingen kann. Ein Beitrag beschäftigte sich mit der Frage, ob und inwiefern das Erstellen individueller Klangkompositionen zum Thema Heimat („Klangheimaten“) auf gesellschaftliche Kontexte und Herausforderungen übertragen werden kann. Utopie und Irritation gehören offenbar zusammen. Offen ist, was anarchische Kunst für die Pädagogik bietet und wie verstörende Rezeptionserfahrungen im Lichte einer entbildenden Klangpädagogik zu sehen sind. Es geht um das Potenzial sinnlicher Irritation und um Aufgaben einer kritischen Klangpädagogik, die über die Begrenztheit der Wahrnehmung und Beherrschbarkeit der Welt hinausweist und Machtstrategien dekonstruiert. In der ersten deutschen Gartenstadt in Hellerau wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts das nicht-Örtliche gedacht und die Utopie einer besseren Welt entworfen; Kunst galt als Katalysator für soziale Wandlung. Das Potenzial einer künstlerisch geprägten Rhythmik zeigt sich – gleichsam als Heterotopie – nicht zuletzt in der Arbeit an Formen von Gemeinsamkeiten und Entgrenzungen der Künste, im Schaffen von Räumen für individuellen Ausdruck und kollektive Entscheidungsfindung.
Mit dem Aspekt „Utopie in institutionellen Kontexten und kommunikativen Räumen“ schließlich befassten sich Entwürfe, die jeweils auf eigene Weise nach strukturellen Bedingungen musikpädagogischer Handlungsbereiche fragen. Als ein bislang kaum untersuchter musikpädagogischer Handlungsbereich kann die Familie gelten. Das Ziel, musikalisches Lernen in der Familie hinsichtlich seiner Wege und Möglichkeiten systematisch ausloten zu wollen, begründet sich aus den Erwartungen, die von musikpädagogischer Seite an das informelle Lernen geknüpft werden und scheint damit gleichermaßen wünschenswert wie utopisch. Offen im Hinblick auf das Ergebnis und seine Konsequenzen für die musikpädagogische Praxis muss auch die Untersuchung von Religion als Differenzkategorie, die Lehrenden in heterogenen Gruppen ein weiteres Instrument für die Reflexion der soziokulturellen Voraussetzungen ihrer Arbeit zur Verfügung stellt, bleiben. So sehr Veränderungen und Innovationen von Einzelpersonen abhängen, scheint es dennoch nützlich, den Blick auf das Agieren von Institutionen zu richten. Gerade in musikpädagogischen Handlungsfeldern sind Kooperationen an der Tagesordnung, wobei nicht zuletzt deren utopisches Potenzial darin liegt, dass in ihnen die geltenden Regeln und Normen der einen Institution durch die Perspektive der jeweils anderen infrage gestellt werden kann. Über die einzelnen musikpädagogischen Institutionen hinaus macht die Frage nach den Möglichkeiten der Wissenschaftskommunikation einen bislang kaum genutzten Raum unbegrenzter Möglichkeiten sichtbar, den zu betreten mit der Utopie einer allseitigen Anerkennung der gesellschaftlichen Relevanz musikpädagogischer Praxis und Forschung verbunden wäre.