Die Zahl von Sing- oder Chorklassen, in denen der Schwerpunkt auf dem praktischen vokalen Musizieren liegt, ist sowohl in Bayern als auch in ganz Deutschland in den vergangenen Jahren stark gestiegen. In Bayern setzen sich unter anderem der Bayerische Musikrat, die Landesarbeitsgemeinschaft Schulchor und das Netzwerk Musik in Schwaben für den Ausbau dieser Unterrichtsangebote ein. So finden sich im schwäbischen Raum mittlerweile an vielen Schulen Chorklassen und Projekte, die speziell auf das Singen im Klassenverband ausgerichtet sind.
Einblicke in die Sichtweise von Schülerinnen und Schülern auf ihre Chorklasse können Musiklehrkräften dabei helfen, solche Angebote möglichst attraktiv zu gestalten, bei Schülerinnen und Schülern die Begeisterung für den Chorgesang und die eigene Stimme zu wecken und das Singen im Musikunterricht zu stärken. Um die Perspektiven von Schülerinnen auf ihre Chorklasse darstellen zu können, wurden im Rahmen einer Zulassungsarbeit an der Universität Augsburg vier Gruppendiskussionen mit insgesamt 20 Siebtklässlerinnen eines bay-erischen Gymnasiums geführt.1
In den Diskussionen waren zunächst keine Themen vorgegeben, außer der Eingangsfrage, was für die Schülerinnen „ihre“ Chorklasse ausmache. Erst wenn die selbständige Unterhaltung der Schülerinnen stockte, stellte die Diskussionsleiterin weitere, offene Nachfragen zu bestimmten Themen, beispielsweise zum Thema Musik und Bewegung. Die Gruppendiskussionen wurden aufgezeichnet, transkribiert und nach dem Verfahren des „Zirkulären Dekonstruierens“ ausgewertet.2
Die im Folgenden dargestellten Forschungsergebnisse beziehen sich also auf eine ganz bestimmte Chorklasse und das Chorklassenkonzept, das sie an ihrer Schule erlebte. Organisatorisch ist die Chorklasse in diesem Fall so gestaltet, dass die Schülerinnen in der Unterstufe eine zusätzliche Stunde Musik haben und außerdem noch freiwillig am Unterstufenchor teilnehmen können, was bei allen befragten Schülerinnen der Fall war. Um ein repräsentatives Bild zu erhalten, wäre es ebenso interessant wie wichtig, weitere Interviews in anderen Chorklassen durchzuführen. Aber schon in den vier Gesprächsgruppen entstand ein sehr vielfältiges und lebendiges Bild davon, wie angehende Teenager das „Chorklasse sein“ erleben. Besonders wichtig waren demnach für die Mädchen drei Faktoren: Das vieldimensionale Erleben von Musik in ihrer Beschaffenheit und Wirkung; Freude an der eigenen Kompetenz als Sängerinnen – sowohl individuell als auch gemeinsam; und die Wahrnehmung, dass die Chorklasse über drei Jahre hinweg eine immer intensiver zusammenwachsende Gemeinschaft bildete.
Musik intensiv erleben
In allen Diskussionen stellte sich heraus, dass es für die Schülerinnen von zentraler Bedeutung ist, in der Chorklasse auf verschiedenste Art und Weise Musik zu erleben. Das Musizieren in Schulkonzerten und bei anderen Auftritten wird generell als wichtig empfunden und positiv eingeschätzt. Dabei machen sich die Schülerinnen sehr genaue Gedanken über die Wirkung von Musik, auf sie selbst wie auch auf ihr Publikum. Elemente wie Bewegungen zur Musik, Fremdsprachen sowie das Erleben von und die Auseinandersetzung mit Texten spielen eine wichtige Rolle.
Besonderen Reiz übt das Musizieren gemeinsam mit „besonderen“ Instrumenten (z.B. Konzertpauken) auf die jungen Sängerinnen aus. Insgesamt ist die Beschaffenheit der gesungenen Stücke für die Schülerinnen von großer Bedeutung. So singen sie beispielsweise besonders gerne unbekannte Lieder oder Lieder in anderen Sprachen; mehrfach wurde geäußert, dass die im Chor gesungenen Stücke „schön“ sein sollen. Als überraschend relevant erwiesen sich in den Gesprächen Umgebung und Atmosphäre, in denen musiziert wird. So ziehen offenbar alle Schülerinnen beispielsweise ein Weihnachtskonzert in der Kirche klar einem Weihnachtskonzert an einem anderen Ort vor.
Musik tut gut
Auch emotionale Komponenten des Umgehens mit Musik wurden hervorgehoben. Die Schülerinnen erklärten, dass Musik sie grundsätzlich aufmuntern könne und eine emotionale Hilfe im Alltag sei. Musik könne bestimmte Gefühle auslösen und würde auch immer wieder zum Nachdenken anregen. Sehr positiv schätzen die Mädchen außerdem Verbindungen zwischen dem Musizieren im Chorklassenunterricht und Filmen, Geschichten oder Freizeitaktivitäten ein.
Musikalisch und gesanglich kompetent sein
Weiter wurde in den Gruppendiskussionen deutlich, dass es für die Schülerinnen elementar ist, sich selbst musikalisch und gesanglich kompetent zu fühlen. Dafür ist das Präsentieren der eigenen Fähigkeiten sehr relevant, sowohl „öffentlich“ vor Publikum als auch „intern“, zum Beispiel gegenüber Mitgliedern des Oberstufenchors. Interessant ist, dass auch für das Kompetenzempfinden der Schülerinnen die Beschaffenheit der gesungenen Stücke eine Rolle spielt: Sie fühlen sich besonders kompetent, wenn sie allgemein als „schwer“ angesehene Werke wie Carl Orffs „Carmina Burana“ oder Stücke in fremden Sprachen bewältigen können, oder wenn sie mehrstimmig singen. Die soziale Bestätigung durch Eltern, Freunde, Geschwister, Verwandte und Lehrkräfte ist ebenfalls sehr bedeutend dafür, dass die Schülerinnen sich als Sängerinnen allgemein wie auch als Chorklasse kompetent und auch entsprechend gewürdigt fühlen. Spannend ist in diesem Zusammenhang der mehrfach formulierte Wunsch der Mädchen, auch einmal an einem Chorklassen-Wettbewerb teilzunehmen.
„Singen kann man lernen!“
Als besonders förderlich für ihr gesangliches Können beschrieben die Chorsängerinnen das Proben mit einzelnen Stimmgruppen und teilweise mit unterschiedlichen Lehrpersonen. Eng mit der Chorklassenarbeit verbunden ist die Erkenntnis, dass sich langes Üben auszahlt. Hierbei war ein maßgeblicher Schlüsselsatz: „Singen kann man lernen“. Die Mädchen berichteten, dass die Stücke nach langen Übephasen dauerhaft im Gedächtnis blieben. Sie bemerken während und nach der Probenarbeit gesangliche Fortschritte, und am Ende hören (und fühlen) sich Konzerte aus Sicht der Schülerinnen gut an. All diese Komponenten trugen offenbar wesentlich dazu bei, dass sich die jungen Sängerinnen schon bald nach Eintritt in die Chorklasse gesanglich kompetenter fühlten und auch die Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten bewusst und positiv erleben konnten.
Wichtig für das eigene Kompetenzempfinden der Schülerinnen sind auch soziale Aspekte: Die Chorklassenmitglieder unterstützten sich bei Proben und Aufführungen gegenseitig und hatten den Eindruck, dass Lehrkräfte, Freunde und Eltern stolz auf sie seien. Diese Anerkennung der gesanglichen Leistungen ist den Schülerinnen wichtig. Für sie ist es außerdem ein Ansporn, dass sie sich durch das Singen in Chorklasse und Unterstufenchor die nötigen Voraussetzungen für weiteres Chorsingen, zum Beispiel im Oberstufenchor, erwerben können.
Gemeinschaft ist wichtig
Überraschend stark hoben die Schülerinnen die Rolle der Gemeinschaft, der sozialen Eingebundenheit innerhalb der Chorklasse hervor. Bereits auf die Frage danach, warum man einer Chorklasse beitreten sollte, wurde die Möglichkeit erwähnt, mit alten Freunden aus der Grundschule zusammenzubleiben und neue Freundschaften zu schließen. Das Singen als verbindendes, gemeinsames Interesse, das auch immer weiter gefördert werden soll, war in allen Gruppendiskussionen zentrales Element. Interessanterweise thematisierten die Schülerinnen ungefragt ihr besonderes und als sehr positiv wahrgenommenes Gemeinschaftsgefühl als Klasse.
Äußerungen wie „... Das kam davon, dass wir durch das Singen halt auch alle verbunden waren“ sind dafür typisch. Die Mädchen betonten die Wichtigkeit gemeinsamer Aktivitäten wie beispielsweise die Chorfahrt für dieses Gemeinschaftsgefühl. Unerwartet hohe Bedeutung maßen die Schülerinnen einer Aufführung der „Carmina Burana“ bei, die sie als großes Gemeinschaftsprojekt zusammen mit dem Oberstufenchor erlebten. Besonders hervorgehoben wurde dabei die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Leuten in Kontakt zu kommen und auch die Vorbildfunktion der älteren Schülerinnen und Schüler als erfahrene Chorsänger.
Gemeinsam Neues ausprobieren
Interessant ist weiter, dass die Schülerinnen gern Neues erleben und sich musikalisch ausprobieren möchten. In diesem Zusammenhang war die Rede davon, sich neue, unbekannte Lieder zu erschließen und Liedtexte schauspielerisch darzustellen. Über das bereits Erlebte hinaus würden die Schülerinnen gerne mit neuen Bewegungen und neuen Choreografien zu ihrem Gesang experimentieren und diese aufführen. Es wurde auch deutlich, dass kreative Elemente wie das Schreiben eigener Liedtexte zu vorhandenen Melodien den Schülerinnen Freude bereiten.
Wiederholt äußerten die Mädchen den Wunsch, auch selbst die zu singenden Stücke auswählen zu dürfen beziehungsweise bei der Auswahl miteinbezogen zu werden. Aus vielen Äußerungen geht hervor, dass für die Schülerinnen das Gefühl von Bedeutung ist, selbst Entscheidungen treffen und Individualität ausleben zu können. In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise auch erwähnt, dass die Schülerinnen nicht in einem besonders gro-ßen Chor singen möchten, da man in der Chorklasse besser auf Einzelne eingehen könne.
Die Zusatzstunde Musik macht Spaß
Insgesamt wurden in allen Gruppendiskussionen auffallend oft Formulierungen mit dem Wort „Spaß“ gewählt. „Spaß haben“ in der Chorklasse spielt für alle Beteiligten offensichtlich eine große Rolle.
In diesem Zusammenhang haben die Schülerinnen bemerkenswerterweise auch erwähnt, dass die chorklassenbedingte zusätzliche Stunde Musik ihnen Spaß mache – neben eher Erwartbarem wie der Feststellung, dass die Chorfahrt oder die Musik generell Spaß mache.
Chorklasse ist anders als „Unterricht“
Sehr interessant, auch für die Planung und Organisation künftiger Chorklassen(-stunden), sind die schulischen und schulorganisatorischen Aspekte, die von den Schülerinnen genannt wurden. Hier ist nochmals hervorzuheben, dass die Mädchen Unterricht durch mehrere Lehrpersonen und die zusätzliche Musikstunde im Rahmen der Chorklasse positiv bewerten. Außerdem schätzen sie die Pausen vor den nachmittäglichen Chorproben als regelmäßige Gelegenheit, miteinander entspannt ins Gespräch zu kommen. Die Schülerinnen haben den Eindruck formuliert, dass sie durch das Singen und die Chorklasse ihre (Musik-)Noten verbessern können und dass sie als Chorklassen-Mitglieder auch von vielen Lehrkräften außerhalb des Musikunterrichts positiver gesehen werden.
Interessanterweise wurde in den Gruppendiskussionen sehr klar unterschieden zwischen „praktischem“ und „theoretischem“ Musikunterricht. Der praktische Musikunterricht wird als lockerer und weniger streng empfunden; die Schülerinnen äußerten, dass man im Musikunterricht nach ihrem Empfinden weniger „Unterrichtsstoff“ behandle und die Zeit schneller vergehe. Über diese Alltagsperspektive hinaus lobten die Mädchen aber auch das Chorklassenangebot der Schule als eine besondere Möglichkeit des Singens und Musizierens, die einige Kinder außerhalb der Schule nicht hätten: Chorklasse als musikalische Bildungschance.
Wie lassen sich Freude und Motivation in einer Chorklasse fördern?
Obwohl alle hier vorgestellten Erkenntnisse auf Aussagen von Schülerinnen an dieser einen, speziellen Schule basieren, können sie vermutlich auch die für die Einrichtung, Leitung und das Unterrichten von Chorklassen insgesamt hilfreich sein. Einige Empfehlungen sind im Folgenden zusammengefasst:
1. Das Singen an sich ist den befragten Schülerinnen wichtig und praktische Einheiten sollten generell auch im „normalen“ Musikunterricht nicht zu kurz kommen.
2. Die Schülerinnen achten sehr genau auf Stückauswahl, Besetzung, Qualität und Wirkung der Auftritte und des Musizierens, herausfordernde und abwechslungsreiche Literatur und auch auf die Atmosphäre, in der musiziert wird. Hier lohnen sich offenbar Sorgfalt, Engagement und Einfallsreichtum von Lehrkräften besonders!
3. Es ist wichtig, dass Schülerinnen und Schüler sich kompetent fühlen können bei ihrem musikalischen Tun. Dazu brauchen sie nicht nur Lob von außen. Ebenso wichtig ist es, dass die Kinder selbst den Auftritt als schön und gelungen empfinden können, selbst eine Verbesserung in ihren Leistungen bemerken und auch als besonders „schwer“ geltende Werke anspruchsvollerer Chorliteratur bewältigen können.
4. Die Klassengemeinschaft und die Gemeinschaft als Chor spielen beim Thema Chorklasse generell eine sehr große Rolle. Hier scheint tatsächlich auch ein besonderes erzieherisches Potenzial zu liegen. So kann einerseits das Singen als verbindendes Element auf besondere Art und Weise zum Entstehen einer guten Chorklassengemeinschaft beitragen und genutzt werden; andererseits ermöglicht eine intensive persönliche Verbundenheit der jungen Sängerinnen vielleicht auch qualitativ noch ansprechendere musikalische Leistungen.
5. Gemeinschaftliche Erlebnisse, die über den normalen Schulalltag hinausgehen, wie zum Beispiel Chorfahrten, Schulkonzerte und andere gemeinsame Auftritte prägen erwartungsgemäß die Chorklassenteilnehmerinnen und -teilnehmer positiv und tragen zu einer guten Gemeinschaft bei.
6. Die Möglichkeit, Neues auszuprobieren, beispielsweise in Form innovativer Chorstücke und kreativer Elemente des Musizierens, kann die Freude am gemeinsamen Singen nochmals steigern.
Wenn schulorganisatorische und zwischenmenschliche Rahmenbedingungen sowie das musikalische Niveau stimmen, kann der Chorklassenunterricht als positives Bindeglied zwischen Freizeit und Schule empfunden werden. Aus einer zusätzlichen zeitlichen Belastung im ohnehin schon vollen gymnasialen Alltag wird für Kinder und Jugendliche dann eine willkommene Abwechslung mit hoch geschätzten musikalischen und sozialen Lern- und Erlebnismöglichkeiten.
Anmerkungen
1 Häberle, Julia (2019): CHOR IST KLASSE. Das Modell Chorklasse aus der Sicht von Schülerinnen – Eine qualitative Studie. Unveröffentlichtes Manuskript.
2 Siehe Jaeggi, E., Faas, A. und Mruck, K. (1998): Denkverbote gibt es nicht. Vorschlag zur interpretativen Auswertung kommunikativ gewonnener Daten. FU Berlin, Fachbereich 7: Umwelt und Gesellschaft. Forschungsbericht Nr. 2-98 aus der Abteilung Psychologie im Institut für Sozialwissenschaften (ISSN 1433-9218). Online verfügbar unter https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/4977/Jaeggi-Faas…