Ulrich Mahlert hat diesen Vortrag auf der Hauptarbeitstagung des Verbandes deutscher Musikschulen am 13. Mai 2022 in Regensburg vor zahlreichen Musikschulleiter/-innen und Lehrkräften gehalten.
Anders als Menschen haben Verbände kein biologisches Alter. Trotzdem könnte man sagen: der VdM ist mit seinen 70 Jahren jung geblieben. Oder vielleicht besser: Er ist jung geworden. Er hat eher alt angefangen und sich dann im Verlauf seiner Geschichte mehrfach gehäutet. Die Folge ist, dass er heute relativ jung erscheint. Doch dazu später. Da ich um diesen Vortrag gebeten wurde, sollte ich mich bei meinen Gedanken zum VdM wohl persönlich etwas kenntlich machen. Das schafft Transparenz und entlastet mich von der Schwäche, dass ich nur einen begrenzten und subjektiven Blick auf den Verband habe.
Ich bin zwei Jahre älter als der VdM. Meine Beziehungen zu öffentlichen Musikschulen haben sich im Laufe der Zeit erheblich verändert. In diesen Beziehungen spiegelt sich einiges von der Geschichte der Musikschulen seit der Verbandsgründung 1952. In meinem musikpädagogischen Lebensweg bemerke ich mancherlei Resonanzen auf die Entwicklung der Musikschulen. Diese Resonanzen haben mich sozusagen in fachliche Schwingungen versetzt. Und das Resonieren hat gelegentlich zum Räsonieren geführt.
Vielleicht liegt in meiner persönlichen Geschichte mit dem VdM, die ich Ihnen vor der Ausführung einiger grundsätzlicher Gedanken erzählen möchte, eine ganz gute Annäherung an das mir gestellte Thema „70 Jahre VdM: ‚Erbe“ und „Auftrag‘. Musikschulen als Resonanzorte gesellschaftlicher Entwicklungen.“ (Ich habe übrigens die beiden Titelwörter „Erbe“ und „Auftrag“ in Anführungszeichen gesetzt und auch das Ausrufezeichen, dass ursprünglich hinter dem Vortragstitel stand, fortgelassen. Ich will mich nicht vom Pathos zur Ausblendung von kritischem Geist verführen lassen.)
Musikalische Sozialisation
Reinhart von Gutzeit hat vor einigen Jahren in einem Vortrag gesagt, er sei ein „‚in der Wolle gefärbter‘ Musikschulmann“ [1]. Seine Verbindung mit der Institution Musikschule begann im achten Lebensjahr als Musikschulschüler in Düsseldorf. Bei mir war das ganz anders. Ich bin zwar nicht weit von Düsseldorf, nämlich in Mülheim/Ruhr groß geworden, wo es auch eine Musikschule gab, hatte aber überhaupt keine Kontakte zu ihr. Meinen Klavierunterricht erhielt ich bei einem Privatmusiklehrer, der nichts von Musikschulen hielt. Das seien Einrichtungen für Blockflöten- und Singkreise; was dort musiziert würde, hätte mit Kunst nichts zu tun, da würde man nicht individuell gefördert, und Kunst sei doch immer etwas Individuelles. Was mein Lehrer sagte, hatte für mich Geltung. Auch fand ich die von Fritz Jöde produzierten Blockflötenkantaten, die ich auf meiner Moeck-Flöte in einem Spielkreis meiner Volksschule mitspielte, ziemlich fade, obwohl ich die Lehrerin, die auch an der städtischen Musikschule unterrichtete, sehr mochte. Auf den Punkt gebracht: Ich bin musikalisch im musikschulfernen Bildungsbürgertum sozialisiert.
Später dann, im Musikstudium in Freiburg, veränderte sich meine ignorante Haltung gegenüber Musikschulen zu einer kritischen. Ich besuchte musikpädagogische Seminare bei Lars Ulrich Abraham, der die demagogischen Wirkungen von verordnetem Singen als Soldat im zweiten Weltkrieg erlebt hatte. Die Aufarbeitung dieser Erfahrungen hatte ihn ideologiekritisch gemacht. Wir sprachen über die politischen Implikationen der Jugendmusikbewegung, die Musikschulen der 1920er Jahre als Orte des gemeinsamen Musizierens, das die auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Gruppen zu einer musisch gestifteten Gemeinschaft verbinden sollte. Wir verstanden, wie leicht die Musikschulen durch ihre – vergleichsweise unschuldige – Gemeinschaftsideologie von den Nazis in die „völkische“ Bildungsarbeit der Reichsjugendführung eingebunden werden konnten. Ebenso erkannten wir, dass die Neugründung der Musikschulen in der jungen Bundesrepublik umstandslos und ohne kritische Beschäftigung mit ihrer Rolle in der Nazizeit an die Gemeinschaftsideale der Jugendmusikbewegung anknüpfte. Nicht nur das: auch personelle Kontinuitäten waren nicht zu übersehen. Führende Männer im neu gegründeten Verband der Jugend- und Volksmusikschulen hatten prominente Funktionen in der Reichsjugendführung und der Ausbildung der damaligen Musikschullehrer innegehabt. Auch diese Tatsachen gehören zum „Erbe“ unseres Verbandes. Wir sollten uns nicht geschichtsblind verhalten. Wenn wir das Wort „Erbe“ nüchtern bedenken und nicht mit Apotheosescheinwerfern glorifizieren wollen, dürfen wir Hypotheken und Altlasten nicht beiseite schieben.
Enorme Entwicklung
Aber jetzt muss ich zur Verteidigung der damaligen Musikschulen ansetzen. In ein Musikstudium, das noch nach 1970 Adornos aus den 1950er Jahren datierende Generalkritik an der Jugendmusikbewegung hochhielt, hätte auch eine Darstellung der enormen Entwicklung gehört, die die Musikschulen und der VdM inzwischen vollzogen hatten. Zur Erinnerung: Der 1952 gegründete „Verband der Jugend- und Volksmusikschulen“ hatte sich 1966 in „Verband deutscher Musikschulen e.V.“ umbenannt und sich damit gewissermaßen aus dem angestammten Bann der Jugendmusikbewegung gelöst. Das Unterrichtsangebot war erheblich erweitert, das Repertoire über die Gemeinschaftsmusiken hinaus zur artifiziellen Musik geöffnet worden. Auch das lange Zeit als individualistisch verpönte Klavier hatte mittlerweile seinen festen Platz in Musikschulen gefunden. „Musikalische Früherziehung“ war seit 1969 ein konstanter Teil der Musikschularbeit. Und so ging es in den nächsten Jahren und geht es bis heute weiter. Über das damalige Leistungspotential der Musikschulen habe ich im Studium nichts erfahren. Musikpädagogische Ausbildung und Berufspraxis an Musikschulen standen damals wohl an den meisten Hochschulen allenfalls in losem Kontakt.
Ich war fast dreißig, als ich erste Erfahrungen an einer Musikschule machte. 1979 begann ich an der neugegründeten Musikschule Westlicher Kaiserstuhl-Tuniberg e.V. zu unterrichten. Viel anders als der Privatunterricht, den ich bisher gegeben hatte, verlief der Unterricht dort allerdings nicht. Die Musikschule hatte kein eigenes Gebäude, ich fuhr also mit meinem Auto zu meinen Schülern über Land in die Weindörfer des Kaiserstuhls. Im Haus eines Bürgermeisters, wo ich zwei begabte und zudem schöne Töchter unterrichtete, bekam ich während der Stunden von der Hausherrin immer ein Glas Wein angeboten, das ich nie ablehnte. Meine damalige Musikschule war in diesen Jahren nicht viel mehr als eine Schülervermittlungsagentur. Kolleginnen und Kollegen lernte ich kaum kennen, allenfalls sah ich einige von ihnen mal kurz beim Begleiten bei Schülervorspielen, für das ich öfters angefragt wurde. An Fachgruppenarbeit, Lehrertreffs oder sonstige gemeinsame Aktivitäten kann ich mich nicht erinnern. Als öffentliche Einrichtung existierte die Musikschule auf dem Papier, aber nicht in der Realität. Ich liebte meine Schüler, aber die Musikschule als Institution spielte dabei keine Rolle.
Als Gegenmodell zu diesem ungreifbaren, kommunal leblosen Gebilde träumte ich damals mit Freunden davon, an einem kleinen Ort in Südfrankreich eine Musikschule zu gründen und zu leiten – eine Schule, in der die Menschen des Ortes ein- und ausgingen, Instrumente lernten, gemeinsam musizierten, sangen und tanzten, bei Vorspielen mitmachten, Konzerte hörten, kurz: mit Musik das Leben feierten. Diese südfranzösische Musikschule hätte dann wohl bei aller deutsch-französischen Freundschaft keine VdM-Musikschule sein können. Sicher war der Plan primär hedonistisch motiviert, aber in seiner sozialutopischen Ausrichtung stand er dem in Deutschland inzwischen groß gewordenen Ideal, dass eine Musikschule ein Kultur- und Bildungszentrum sein sollte, gar nicht so fern.
Was Musikschulen sind und sein können, erfuhr ich erst so richtig ab 1983, als ich zusammen mit Reinhart von Gutzeit die Schriftleitung der im Schott Verlag ins Leben gerufenen Zeitschrift „üben & musizieren“ übernehmen durfte. Und weil ich ein Jahr später eine Professur für Musikpädagogik an der Universität der Künste Berlin (damals hieß sie noch Hochschule der Künste) bekam, hatte ich nun doppelt mit den öffentlichen Musikschulen zu tun. Die Zeitschrift wurde zu einem Spiegel der Musikschularbeit und ihrer Entwicklungen, und in der Ausbildung der Studierenden suchte ich engen Kontakt zu den Berliner Musikschulen, an denen ja die meisten Absolvent*innen unterrichten würden. In die neuen Studienordnungen kamen nun endlich verbindliche Orientierungspraktika für die Studienanfänger und zweisemestrige Unterrichtspraktika bei erfahrenen Musikschullehrenden als Mentor*innen. Ich hatte begonnen, mich nicht nur für Musikschulen zu interessieren, sondern sie richtig zu lieben und mich, so gut ich konnte, für ihre Belange zu engagieren.
Was Musikschulen leisten
Besonders das vielfältige Angebot der Berliner Musikschulen führte mir vor Augen, was Musikschulen alles leisteten, in wie vielen diversen musikalischen und gesellschaftlichen Biotopen sie wirkten, wie viele individuelle und gesellschaftlich gebotene Wünsche nach musikalischer Betätigung sie aufgriffen und anregten. Was alles war hinzugekommen seit meinem Studium: Jazz, Rock, Pop, Kammermusik, Rhythmik und Tanz, Neue Musik, Instrumentalspiel mit Behinderten (so die damalige Bezeichnung des Initiators Werner Probst – heute spricht man von Menschen mit Behinderungen), Einbeziehung von Musik aus diversen Ländern und Kulturen, dazu eine pädagogische Fundierung, eine Ausweitung des Methodenrepertoires, Konzeptionen von Projektarbeit, sorgfältig erwogene Lehrpläne, nicht zuletzt vielfältige Verbindungen mit anderen örtlichen Bildungs- und Kultureinrichtungen. Nun konnte die öffentliche Musikschule tatsächlich den Anspruch erheben, eine „offene Musikschule“ zu sein – so die bis heute gültige und immer wieder neu zu realisierende Leitformel, formuliert 1989, im Jahr vor der Integration von über 150 Musikschulen aus den damals neuen Bundesländern in den VdM. Das Ideal, nein der Anspruch der Offenheit galt und gilt in mehrfacher Hinsicht: offen prinzipiell für alle Menschen; offen prinzipiell für alle Arten von Musik, sofern sie nicht menschenverachtende Inhalte transportiert; offen prinzipiell für vielerlei Umgangsweisen mit Musik. Eine solche ideale Musikschule schirmt sich nicht konservatorial ab von gesellschaftlichen Entwicklungen wie demografischem Wandel, Migration, Diskursen über Bildung und kulturelle Teilhabe, von medienbasiertem und digitalem Lernen. Sie nimmt sie auch nicht nur zur Kenntnis, sondern greift sie auf, um mit ihren Leistungen möglichst nahe bei den Menschen vor Ort, ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten zu sein.
Zumindest kurz eingehen muss ich an dieser Stelle auf die Problematik, die für viele Lehrkräfte in der ehemaligen DDR entstand, als ihre Musikschulen in den VdM überführt wurden. In zahlreichen Fortbildungen in den damals neuen Bundesländern habe ich erfahren, wie schwer für viele dieser Wechsel war. Ihr ehemals sozial stabiler, gesellschaftlich angesehener Beruf, der auf Förderung begabter Kinder und Jugendlicher und auf hohe Leistungsstandards ausgerichtet war, wurde nun sozial labil und musste in beträchtlichem Umfang die Breitenarbeit in sein Aufgabenfeld einbeziehen. Viele Lehrende fühlten sich in ihrer beruflichen Identität in Frage gestellt oder gar entwertet. Honorarverträge statt Festanstellungen, Verpflichtung zu Gruppen- und Klassenunterricht mit häufig wenig motivierten Schüler*innen statt Unterricht mit ausgewählten Talenten – das empfanden viele Lehrkräfte als Demütigungen. Auch diese Problematik gehört zum „Erbe“ des VdM. Mit ihr verstärkt sich sein „Auftrag“, weiterhin und noch mehr als bisher an der sozialen Konsolidierung der an Musikschulen Beschäftigten und an einer Verbesserung des mit diesem Beruf verbundenen Renommees zu arbeiten. Musikschulen sollten Lehrenden Befriedigung an den Tätigkeiten in ihren diversen Aufgabenfeldern ermöglichen.
Resonanzen auf gesellschaftliche Entwicklungen
Viele Neuerungen der offenen Musikschule lassen sich als Resonanzen auf gesellschaftliche Entwicklungen verstehen. Musikschulleiterinnen und -leiter sind eingebunden in die örtliche Kommunalpolitik, die ihre Schulen trägt und mitfinanziert. Vor ihrem Gemeinderat müssen sie Rede und Antwort stehen und fortwährend unter Beweis stellen, was sie leisten für den relativ kleinen Organismus einer Kommune, in dem sich aber ja große und zum Teil weltweite gesellschaftliche Veränderungen spiegeln („heutzutage finde man in jedem Dorf die Probleme der ganzen Welt“ [2], meinte Christa Wolf bereits 1989). Wie die Kommunen insgesamt sind auch ihre verantwortungsvoll betriebenen Musikschulen Orte, in die solche Veränderungen hineinwirken. Musikschulen fungieren als Resonanzkörper gesellschaftlicher Veränderungen.
Aber nicht nur die Inhalte und Strukturen der Institution werden durch sie beeinflusst. Es sind vor allem die in die Musikschule kommenden Menschen, Lernende wie Lehrende, die in Musik ein Resonanzmedium suchen für ihre persönlichen Ideale, ihre Bedürfnisse und Hoffnungen, und vielleicht sogar eines, mit dem sie sich psychisch stärken oder gar selbst therapieren können. Jeder einzelne Mensch ist ein gesellschaftlich geprägtes Wesen, und somit ist jede Einzelunterrichtsstunde eine gesellschaftlich relevante Aktivität.
Musikschulpolitik – das ist nicht nur die Klärung und Ermöglichung der Aufgaben von öffentlichen Musikschulen, es ist das Handeln der Musikschulen und ihrer Lehrenden. Noch einmal: Jedes Angebot, jede Musikstunde ist Musikschulpolitik. Jede Stunde auch mit nur einem Schüler wirkt hinein in verschiedene soziale Gruppierungen: in Familien, in Schulklassen, in Freundeskreise, in kommunale Veranstaltungen. Ihre Wirkungen reichen in das zukünftige Leben der Lernenden mit all ihren biografischen Verzweigungen und sozialen Wirkungskräften hinein. Es kann einem schwindlig werden, wenn man sich die daraus erwachsende Verantwortung der Institution Musikschule, ihrer Lehrenden und ihrer Leitungen klar macht.
Ich war noch nicht ganz fertig mit der Geschichte meines persönlichen Verhältnisses zu öffentlichen Musikschulen und zum VdM. Zwei wichtige resonanzstarke Elemente fehlen noch.
Zunächst ist da meine zwölfjährige Arbeit als Sprecher der „Arbeitsgemeinschaft der Leitenden musikpädagogischer Studiengänge in der Bundesrepublik Deutschland“ (ALMS) in den Jahren 1991 bis 2003. Als besonders erfreulich erscheint mir im Rückblick auf diese Tätigkeit die Belebung der Beziehungen dieses Gremiums der Ausbildungsinstitute zum VdM. Besonders das vertrauensvolle Verhältnis, das mich mit dem damaligen VdM-Vorsitzenden Gerd Eicker verband, ermöglichte eine Konsolidierung der Kontakte. Mit etlichen Kollegen beider Gruppierungen gründeten 1999 wir eine Arbeitsgemeinschaft, die seither intensiv über alle Fragen des Verhältnisses von musikpädagogischer Ausbildung und Musikschularbeit berät. Zählebige Vorbehalte wurde überwunden, eine fachliche Zusammenarbeit begründet, in der beide Seiten viel voneinander lernten. Mir war immer wichtig zu betonen, dass die Ausbildungsinstitute der Hochschulen nicht über den Musikschulen stehen. Das wäre ein Missverständnis des Wortbestandteils „hoch“. Sicher, „Höhe“ meint zunächst traditionell die Ansprüche der künstlerischen Ausbildung. „Höhe“ impliziert für mich aber vor allem auch Umsicht. Dazu ist ein erhöhter Standort nötig. Umsicht benötigt eine Perspektive, von der aus die Berufsrealitäten genau zu beobachten, zu analysieren und sodann in der Gestaltung der Studiengänge zu berücksichtigen sind. Für die Musikschularbeit und die für sie relevante Ausbildung bedeutet dies, dass die Kontakte, der Austausch, die Solidarität zwischen Musikschulen und Hochschulen gar nicht achtsam genug gestaltet werden können. Nur gemeinsam können Hochschulen und Musikschulen verschiedene Formen des Musizierens als resonanzstarke Aktivitäten in der Lebenswirklichkeit von Menschen verorten.
Die zweite Tätigkeit, die mich seit 2000 für zwanzig Jahre eng mit dem VdM verbunden hat, war meine Arbeit im Leitungsteam des jährlichen Lehrgangs „Führung und Leitung einer Musikschule“. Auch hier muss ich Gerd Eicker nennen. Er war es, der mich in das Leitungsteam bat. Die wunderbare Zusammenarbeit mit ihm hat sich mit Winfried Richter, Ulrich Rademacher, Friedrich-Koh Dolge und Matthias Pannes fortgesetzt. Auch Rainer Mehlig, den Vorgänger von Matthias Pannes als Bundesgeschäftsführer, möchte ich nicht unerwähnt lasse. Ich weiß nicht, wer in meinen Kurseinheiten über Bildung und Kultur als Aufgabenfelder von Musikschulen, über Qualität von Unterricht und über Elternarbeit mehr gelernt hat: die Teilnehmer*innen oder ich. Sowieso gilt: Nur wenn auch der Lehrende von den Lernenden lernt, kann Lehre etwas taugen. Jedenfalls habe ich mir in Trossingen immer wieder gesagt: Sauge auf, was du da alles von den vielen zum großen Teil schon hocherfahrenen Kursteilnehmer*innen erfährst, nimm es hinein in das, was du ihnen anbieten kannst, sorge dafür, dass ein Zusammenhang entsteht zwischen deinen Lehrinhalten und dem Erfahrungsfundus der Teilnehmer*innen. Das größte Glück war, wenn ich spürte, dass sich wechselseitige Resonanzen bildeten: Resonanzen zwischen mir und den Teilnehmenden und unter ihnen selbst. Mir lag daran, dass ihre individuellen Persönlichkeiten hervortraten und sich im Austausch entfalteten. Immer wieder haben mich Lehrgangsteilnehmer*innen nach den Kursen zu Fortbildungen an ihre Musikschulen eingeladen. Auch das habe ich als Resonanz auf meine Kursarbeit empfunden. Die Herausforderungen solcher Fortbildungen lagen für mich darin, die in den Leiterkursen dargestellten Ideen nun wirklich in die Musikschulpraxis vor Ort herunterzubrechen – also eigentlich das zu tun, was Aufgabe und Schwierigkeit jeder leitenden Person an einer Musikschule ist. In der Höhe bildungstheoretischer Diskurse hat man manchmal gut reden. Ihre Verwirklichung im Alltagshandeln ist noch mal etwas anderes. Wer fortbildet, muss vieles sein: Ideengeber, Aufklärer, Anreger, Ermutiger, Tröster, Phantasiewecker, Würdiger. In jeder Fortbildung zeigt sich, wie schwer es ist, das alles zu sein.
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Soweit zu meiner persönlichen Geschichte mit dem VdM und seinen Musikschulen. Ich möchte nun zum Schluss meines Vortrags vor dem geschilderten und zweifellos sehr begrenzten Erfahrungshintergrund einige persönliche Gedanken und Anregungen im Umkreis der Begriffe „Erbe“ und „Auftrag“ formulieren.
Erstens: Das „Erbe“ der Musikschulen steht nicht fest, es besteht vielmehr in einer Aufgabe.
„Geerbt“ haben die Musikschulen nicht etwa, wie der Begriff leicht suggeriert, das Repertoire der abendländischen Kunstmusik. Von ihm wollten sich die aus der Jugendmusikbewegung hervorgegangenen Musikschulen ja gerade absetzen. Erst nach und nach wurde dieses Repertoire dann in die Musikschularbeit einbezogen. „Geerbt“ hat die Musikschule, so würde ich aus dieser Tatsache folgern, die fortwährende Aufgabe, sich zu öffnen für künstlerisch anspruchsvolle Musik, wo immer auch diese stilistisch und kulturell verortet ist. Und dort, wo das Musikrepertoire aus didaktischen oder sonstigen Gründen bescheiden bleibt, sollte auf künstlerische Qualität des Musizierens geachtet werden. Gleichzeitig ist aber auch die „offene Musikschule“ ein kostbares Erbstück, sagen wir: ein Sigelring. Aber dieser Ring liegt nicht einfach wohlverpackt da; sondern er muss immer wieder neu gefasst, bearbeitet und umgearbeitet werden, wenn er nicht eines Tages antiquiert aussehen soll. Also auch hier: Offenheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess.
Zweitens: Mit dem Begriff „Auftrag“ sollte reflektiert umgegangen werden.
Das Wort „Auftrag“ gerät leicht zu einer bildungspolitischen Leerformel, die bedeutungsschwer klingt, aber inhaltlich unbestimmt bleibt. Der Begriff birgt die Gefahr, mit ihm allzu schnell in eine diffuse begriffliche Höhe aufzusteigen. Der Politologe und Journalist Dolf Sternberger hat die Vokabel „Auftrag“ bereits in der frühen Phase der Bundesrepublik in dem von ihm und zwei Kollegen verfassten „Wörterbuch des Unmenschen“ [3] kritisch beleuchtet. In der alten praktischen Bedeutung ist klar, was mit „Auftrag“ gemeint ist. Einem Diener oder Boten wird von seinem Dienstherrn ein Auftrag gegeben, den er auszuführen hat. Später dann wird das Wort nach Sternberger als „hochtrabende Rede modisch“: eine Institution oder Organisation hat einen Auftrag, meist ist es ein „höherer Auftrag“ „zu erfüllen“ [4]. Sternberger spricht von „einer Art metaphysischer Propaganda“ [5], die das Wort „Auftrag“ dann zu leisten hat. Er stellt fest, dass der „Auftraggeber“ in den vielen pathetischen Reden, in denen der Begriff „Auftrag“ erscheint, nicht kenntlich wird. „Hört man solchen Sprechern und Rednern zu, so tappt man hinsichtlich des Auftraggebers gänzlich im dunkeln, er bleibt immer anonym, der Große Unbekannte.“ [6]
Natürlich haben Musikschulen einen „Bildungsauftrag“ von der öffentlichen Hand. Aber wer ist die „öffentliche Hand“? Wir selbst, die Fachleute für die Bildungsqualitäten der Musik und des Musizierens, sind dafür verantwortlich, unseren „Auftrag“ immer wieder neu zu bedenken, zu konkretisieren und zu formulieren. Auch ein Bildungsauftrag ist keine statische Größe, sondern eine fortwährend neue Herausforderung durch die Aufgabe, Menschen in der Beschäftigung mit Musik möglichst vielseitig zu fördern und zu bilden. Das gilt übrigens an jeder Musikschule nicht nur für Lernende, sondern auch für die Lehrenden: Jede Musikschule sollte ihnen mit fantasievoller Zuwendung viele Anregungen und Möglichkeiten bieten, ihre künstlerischen und pädagogischen Potentiale breit zu entfalten. Gerade wenn Lehrende nur als Honorarkräfte beschäftigt werden können, verdienen sie allerhöchste Wertschätzung und Förderung. Eine wache Musikschulleitung muss ihnen attraktive berufliche Spielräume bieten, wenn sie schon nicht angemessen honoriert werden. Gute Musikschulen fördern Lernende und Lehrende. Diese Doppelheit gehört zu ihrem Auftrag.
Meine kritischen Überlegungen zu den Begriffen „Erbe“ und „Auftrag“ führen mich zu einem weiteren sprachkritischen Gedanken.
Drittens: Der VdM hat einen schwierigen Spagat zwischen der Formulierung bildungspolitischer und künstlerisch-pädagogischer Anliegen zu bewältigen.
Auf der Website des VdM wird definiert: „Der VdM ist der Fach- und Trägerverband der öffentlichen gemeinnützigen Musikschulen in Deutschland.“ Träger öffentlicher Musikschulen sind hauptsächlich die Kommunen. Mit der Doppelheit von Fach- und Trägerverband ist dem VdM das Spannungsverhältnis zwischen fachlicher und politischer Verantwortung sozusagen implementiert. Er steckt damit in einer Sandwich-Position zwischen kommunalen Verantwortungsträgern und pädagogisch Handelnden (zu denen ich übrigens auch die Eltern von Schüler*innen zähle). Dieses Spannungsverhältnis auszutarieren, erfordert viel Umsicht und Fingerspitzengefühl. Es ist nicht leicht, eine Sprache zu finden, die beide Personengruppen gleichermaßen anspricht. Ich finde, dass dem VdM in vielen Verlautbarungen dieser Spagat ziemlich gut gelungen ist. Gelegentlich frage ich mich allerdings auch, ob Beschlüsse und Erklärungen so formuliert sind, dass sich die Lehrenden, die primär in pädagogischen Zusammenhängen denken, in ihnen wiederfinden und sich mit ihnen identifizieren können. Mir scheint es jedenfalls wünschenswert, für die zweifache Ausrichtung viel Sensibilität aufzubringen.
Viertens: Der VdM muss seine Musikschulen vor Überforderung schützen.
In Verlautbarungen und Erklärungen lässt sich leicht vieles hineinschreiben, was aktuelle bildungs- und kulturpolitisch Diskurse aufgreift und diese bereitwillig als neue Aufgaben von Musikschulen postuliert. Klar: Musikschulen sollen den Puls der Zeit fühlen. Genau dadurch haben sie sich ja immer wieder aufs Neue verjüngt. Und klar ist auch, dass nicht jede Musikschule alle Postulate im Hauruckverfahren umsetzen kann: Inklusion, generationenübergreifendes Musizieren, Arbeit mit Geflüchteten, Kooperationen mit allen möglichen kommunalen Bildungs- und Kulturträgern, digitale Ausrüstung, eine innovative digital erweiterte Didaktik – alle diese und diverse weitere Innovationen brauchen Zeit zur Umsetzung. Die Qualität einer Musikschule bemisst sich nicht in erster Linie danach, wie schnell wie viele solcher programmatischen Forderungen realisiert wurden. Offenheit braucht als Gegenkraft den Mut zu sinnvoller, den örtlichen Gegebenheiten Rechnung tragender Begrenzung. Sonst führt sie zu einem pädagogischen Dilettieren, das ihren Ansprüchen nicht gerecht werden kann.
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Ich hoffe, es ist mir einigermaßen gelungen, etwas von der feiertagsredlichen Patina, die sich gerade bei einem Jubiläum auf die Begriffe „Erbe“ und „Auftrag“ legt, fortzukratzen. Besonders bei einem ebenso bedeutungsoffenen wie wirkungsmächtigen Phänomen wie Musik, das zu allen möglichen Projektionen und Idealisierungen einlädt, sind gedankliche Nüchternheit und kritischer Sinn geboten. Oft genug haben Menschen sich durch Musik zu gefährlichen Irrationalismen verführen lassen. Für Musikschulen gilt: Aus ihrem Erbe erwächst der Auftrag einer kritischen Musikschule – kritisch gegenüber Schlagworten, Überfrachtungen, aber auch gegenüber einem Mangel an Bewusstsein für die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge, in denen sie wirken.
Eingangs habe ich gesagt: Die Musikschulen des VdM haben verhältnismäßig alt begonnen und haben sich Laufe ihrer 70-jährigen Geschichte immer wieder verjüngt. Pablo Picasso hat einmal gesagt: Es dauert lange, bis man jung wird. Ich wünsche dem VdM und seinen Musikschulen, dass sie sich weiterhin mutig und umsichtig verjüngen – ohne sich künstlich jung zu machen.
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[1] Reinhart von Gutzeit: Musikschule – Bildung mit großer Zukunft. Vom elementaren Musizieren zum Weltverständnis: der weite Horizont der Musikschularbeit, in: üben & musizieren 4/2011, S. 7.
[2] Christa Wolf: Sommerstück, Frankfurt a.M. 1989, S. 61.
[3] Dolf Sternberger/Gerhard Storz/Wilhelm E. Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Hamburg u. Düsseldorf 1968, neue erweiterte Ausgabe, München 1970.
[4] Zitate des Satzes a.a.O., S. 19.
[5] Ebd.
[6] A.a.O., S. 20.