„Theater unter Vorbehalt“ hatte das Stadttheater Gießen schon im Frühsommer für die Saison 2021/22 angekündigt. Weder wisse man so recht, schrieb Intendantin Cathérine Miville in der Spielzeit-Vorschau, unter welchen Voraussetzungen man werde spielen können, noch was „auf dem kreativen Marktplatz der Gedanken“ gefragt sei. Wie Theater zusehends zum Abenteuer wird, war nun am 1. Weihnachtsfeiertag bei Vincenzo Bellinis „Zaira“ zu erleben.
Noch spielen in den meisten Bundesländern die Theater. In Hessen sind seit dem 28.12. allerdings nur noch 250 Zuschauer gestattet, nach wie vor unter „2Gplus“, das heißt: Zweifach Geimpfte müssen zusätzlich einen tagesaktuellen Test vorlegen. In Gaststätten und Restaurants kommt man dagegen noch mit „2G“ ohne Test aus. Im benachbarten Rheinland-Pfalz ist es umgekehrt. Sind die Hessen stärker kulturbesessen, und ihre westlichen Nachbarn eher verfressen? Es fällt schwer, sich auf die aktuellen Bestimmungen einen Reim zu machen. Das Stadttheater Gießen versucht es mit Ironie: Unter der Sparte „aktuell“ vermeldet die Homepage: „Zwei mal geimpft = doppelt genesen hoch Booster+PCR⁹⁷ – das Ganze geteilt durch 13₽ bei Abstand minus der ins Quadrat gehobenen Wurzel der HAHA-Regelungen und zu gleichen Teilen auf die 25% der Kapazitäten über der Grundauslastung von 250 auf 14 Tage verteilt – ergibt – falls die amtlich beglaubigten Nachweise über jeden Schritt gestempelt und unterschrieben vorliegen – den Zutritt ins Theater.“ Weiter unten folgt dann aber der ernst gemeinte Dank an alle, die die „Herausforderung“ des Theaterbesuchs auf sich nehmen – und die Zusage, alles zu tun für „ein rundum erfreuliches Theatererlebnis“.
Demgemäß hat sich der Berichterstatter als noch nicht Drittgeimpfter ordnungsgemäß einen Testtermin zweieinhalb Stunden vor der Vorstellung besorgt, und zwar gleich bei der dem Gießener Theater gegenüberliegenden Teststelle des Deutschen Roten Kreuzes. Als wir zur vereinbarten und schriftlich bestätigten Zeit eintreffen, finden wir den Tresen unbesetzt und keinerlei Personal vor Ort. Eine freundliche Einheimische, unter der Schutzmaske etwas mühsam zu verstehen, weist uns immerhin gleich den Weg zur nächstgelegenen offenen Teststelle nahe dem „Elefantenklo“. (Bei diesem berüchtigten innerstädtischen Bauwerk aus den späten 1960er Jahren handelt sich um eine Überführung, die als Brücke von der autogerechten Stadt in ein dem Kommerz gewidmetes Fußgänger-Reservat dienen sollte. Den drei markanten Öffnungen zum Straßenniveau hin verdankt sie ihren wenig schmeichelhaften Spitznamen.) Tatsächlich lässt sich dort nicht nur zügig ein Corona-Test absolvieren; bei nasskaltem Schneeregen in der ziemlichen menschenleeren Innenstadt finden wir in nicht allzu weiter Entfernung sogar ein kleines geöffnetes Restaurant mit nahöstlicher Speisekarte, in dem sich die Wartezeit bis zur Vorstellung ebenso angenehm wie stilgerecht überbrücken lässt. Bellinis selten gespielte Oper „Zaira“ spielt schließlich im vorderen Orient, genauer: im muslimisch besetzten Jerusalem der Kreuzfahrerzeit.
„Zaira“ geht zurück auf Voltaires Tragödie „Zaire“ aus dem Jahr 1732; diese war der größte Bühnenerfolg des französischen Schriftstellers und Philosophen und, wie dem instruktiven Gießener Programmheft zu entnehmen ist, in Italien sogar knapp 100 Jahre später noch so beliebt, dass Bellins Librettist Felice Romani sie beim Publikum als bekannt voraussetzen konnte. (Daraus resultierte in Gießen die Idee, Voltaire an einigen Stellen der Oper auftreten und ihn ergänzend Auszüge der Vorlage vortragen zu lassen.) Dem Programmheft entnehmen wir außerdem, dass es ein komplizierter Weg zur Premiere von Bellinis Oper anlässlich der Eröffnung des neuen herzoglichen Theaters von Parma am 16.5.1829 war. Ein einflussreicher lokaler Opernlibrettist intrigierte vorher und nachher gegen das Werk. Vincenzo Romani widersetzte sich dem für das Herzogtum Parma geltenden Schnurrbartverbot (!) und brauchte zur Einreise eine Sondergenehmigung, und schließlich stand der Sänger der männlichen Hauptrolle erst vier Tage später als geplant zur Verfügung. Der Misserfolg der Oper beim Publikum war so groß, dass Bellini dem Werk keine Chance mehr gab und große Teile der Musik in „I Capuleti e i Montecci“ und „Norma“ wiederverwendete. „Zaira“ kam erst 1976 in Catania wieder auf die Bühne.
Auch aktuell, am 1. Weihnachtsfeiertag in Gießen, herrscht vor der Vorstellung ungewöhnliche Nervosität. Der Zuschauerraum steht weit offen, doch dem Publikum bleibt der Einlass bis fünf Minuten vor Beginn verwehrt. Als schließlich alle im gebotenen Schachbrettmuster Platz genommen haben, tritt Abendspielleiter Francesco Rescio mit einer unerfreulichen Nachricht vor den Vorhang: Marcell Bakonyi, Sänger der männlichen Hauptrolle des Orosmane, ist kurzfristig erkrankt, kann weder singen noch spielen und lässt sich auch nicht ersetzen. Kurzfristig habe man nun entschieden, das angereiste Publikum nicht wegzuschicken, sondern alle Szenen zu geben, in denen der Hauptdarsteller nicht vorkomme – d.h. etwa 75 von 120 Minuten Aufführungsdauer. Er werde den Inhalt der fehlenden Szenen jeweils kurz zusammenfassen. Die Zuschauer könnten nun entscheiden, ob sie bleiben oder nach Hause gehen wollen, dürften aber in jedem Fall ihre Eintrittskarten in den Folgetagen für eine komplette Vorstellung umtauschen.
Im Parkett jedenfalls macht niemand von der Möglichkeit Gebrauch, das Haus vorzeitig zu verlassen. Auch der Berichterstatter bleibt. Zu ungewiss erscheint ihm, ob und wann die Covid19-Variante Omikron die nächste Vorstellung zulassen wird. Muss man nicht mittlerweile froh sein, wenn Theater überhaupt stattfindet? Ist es vielleicht sogar spannend zu sehen, wie sich ein solcher Abend anlässt? Haben nicht gerade der Berliner Philosophieprofessor Georg W. Bertram und der Jazzexperte Michael Rüsenberg im Reclam-Verlag ein Hohelied auf die menschliche Fähigkeit zur Improvisation veröffentlicht? In dem schmalen 120-Seiten-Band unter dem Titel „Improvisieren! Lob der Ungewissheit“ lesen wir: „Wir sind Lebewesen, die Fähigkeiten des Improvisierens entwickelt haben. Mittels dieser Fähigkeiten gelingt uns etwas Einzigartiges. Wir können etwas, was uns unverhofft widerfährt, für uns produktiv machen. (…) Wir erleiden Unvorhergesehenes nicht einfach nur und verbleiben in Schockstarre, sondern können uns im improvisierenden Problemlösen weiterentwickeln.“ Wie sich das Theater Gießen daran versucht, können wir nun in Echtzeit beobachten. Dem Erzähler Francesco Rescio, der eigentlich nebenher den Voltaire spielen sollte, merkt man an, dass er improvisiert. Unerwartet zum Wegweiser des Abends geworden, verspricht er sich manchmal und verwechselt zwei Szenen. Doch selbst als sich sein Mund-Nasen-Schutz am Brillengestell verhakt, bleibt er gelassen und nimmt die Situation mit Humor.
Und bei all dem fällt ihm ein entscheidender Satz ein, der die Paradoxie der Aufführung auf den Punkt bringt. Den Sultan Orosmane, Sohn des legendären Saladin, habe Voltaire in voller Absicht als aufgeklärten, weltoffenen und sichtbaren Herrscher gezeichnet, der sich dem Volk zeige und nicht in seinen Gemächern verschließe; jetzt aber sei er vollkommen unsichtbar geworden. Damit fehlt nicht nur der Hofgesellschaft die Mitte und der Handlung der Kopf. Zusätzlich entgeht uns das seltene Beispiel einer Basspartie in der Rolle des Liebhabers. Orosmane hat sich nämlich in die Titelheldin verliebt, die man nach der Rückeroberung Jerusalems durch Saladin als Findelkind im Harem des Sultans untergebracht hatte. Zaire erwidert die Liebe des Sultans. Doch just am Vortag der Hochzeit kehrt unerwartet ein Bote aus Frankreich zurück: Nerestano, gleichfalls als Findelkind am Hof des Sultans aufgewachsen und Zaira in alter Zuneigung verbunden, überbringt das Lösegeld für zehn gefangene Christen. Der großzügig gestimmte Orosmane erlaubt daraufhin auch den übrigen Gefangenen die Abreise – nach Zairas Fürsprache sogar dem letzten christlichen König Lusignano. Der schwer kranke Lusignano erkennt in Zaira und Nerestano seine zwei verlorenen Kinder. Weit mehr als die Wiedersehensfreude bewegt ihn allerdings das Problem, dass seine Tochter im muslimischen Glauben aufgewachsen ist und den Sultan heiraten soll. Lusignano, und nach dessen Tod noch vor Abfahrt auch Nerestano überhäufen Zaira mit Vorwürfen und Drohungen wegen ihres angeblichen Abfalls vom Christentum. Obwohl sie mit dem Motto „Meine Religion ist die Liebe“ tapfer dagegen hält, halluziniert sie schließlich eine große Verdammungsszene, in der sie ihr verstorbener Vater verflucht. (Die sich steigernde Angst vor dem Jüngsten Gericht, das ja eine gemeinsame Vorstellung der abrahamitischen Religionen ist, dürfte sie ironischerweise gerade ihrer muslimischen Erziehung verdanken.)
Mit dieser beängstigenden Szene endet wirkungsvoll die Gießener Aufführung und auch die begleitende Erzählung. Im Programmheft darf man die Fortsetzung nachlesen: Orosmane belauscht Zaira, die ihn aus vermeintlicher Vorsicht in die neu entdeckten Familienbande noch nicht eingeweiht hat, bei einem letzten Treffen mit Nerestan. Er vermutet eine heimliche Liebesbeziehung und ersticht die beiden aus Eifersucht – und als er die wahren Zusammenhänge erfährt, auch sich selbst.
Eine solche Rumpf-Aufführung bringt naturgemäß für alle Beteiligten erhöhte Spannung und ein anderes Timing mit sich. Naroa Intxausti gestaltet die anspruchsvolle weibliche Hauptrolle auf imponierende Weise, doch man merkt ihr die Situation an; es dauert eine Weile, bis sich das Vibrato ihrer angenehm tragenden Stimme beruhigt hat. Völlig in ihrem Element scheint die Mezzosopranistin Na’ama Goldman in der Hosenrolle des Nerestano. Stimme und Haltung zeigen einen jungen Mann, der definitiv entschieden hat, auf welcher Seite er steht. Auch in ihrem Jerusalemer Umfeld hat Zaira es nicht leicht. Corasmino, der Wesir des Sultans, intrigiert gegen die Vermählung seines Chefs mit einer gebürtigen Christin; Leonardo Ferrando glänzt hier in einer hohen, koloraturenreichen Tenorpartie. Auch Zairas Gefährtin Fatima (Sofia Pavone) sieht die geplante Liebesheirat ebenfalls mit Misstrauen. Der Opernchor verkörpert eindrucksvoll den Hofstaat des Sultans und die gefangenen Christen. Szenisch wird er von Regisseur Dominik Wilgenbus ziemlich statisch geführt; das passt, denn beide Gruppen sind sehr auf ihre jeweiligen Anführer fixiert. Zaira als lebender und liebender Mensch gerät zwischen die ideologischen Fronten. „Religiöse Streitereien sind das Los der barbarischen Völker oder derer, die dazu geworden sind,“ zitiert das Programmheft dazu passend Voltaires eigenes „Dictionnaire philosophique“. Gerade die paradoxe Bühnensituation macht es besonders deutlich: Lusignanos und Norestanos Hass „funktioniert“ ganz unabhängig vom wirklichen Orosmane; eine echte Begegnung von Mensch zu Mensch würde nur stören.
Bellinis und Romanis dramaturgische Konzeption setzt nicht auf dramatische Begegnung, sondern auf das wirkungsvolle Aussingen und Ausleben von Emotionen – ob allein oder im Kollektiv. Für klärende Aussprachen oder ergebnisoffene Diskussionen hat das Drama keinen Platz. Dem entspricht die recht statuarische Inszenierung, die durch Lukas Nolls ansprechende Bühnengestaltung allerdings eine beachtliche Vertiefung erfährt. Der Ausstatter teilt die Bühne wie einen großen Setzkasten in zwei Stockwerke mit jeweils drei Kammern, die per Videoprojektion unterschiedlich beleuchtet und ausgestaltet werden können und sich auch zu größeren Raumeinheiten verbinden lassen. Wir sehen Säle, Flure, intime Räume und Gefängniszellen, und dazwischen immer wieder muslimische Ornamente, die zu den real auf der Bühne vielstrapazierten Requisiten Kreuz und Schwert kontrastieren. Auch an duettierenden Stellen singen die Darsteller oft aus ihrem jeweiligen Rahmen heraus – mit dem Gesicht zum Publikum, nicht zueinander. Eine wichtige Ausnahme bildet ein Duett zwischen Nerestano und Zaira, in dem zwischen zwei Nachbarzimmern buchstäblich die Tür zugeschlagen wird. Reizvoll wäre es in der Tat, diese Bühnenästhetik über eine komplette Aufführung hinweg zu verfolgen.
Reizvoll wäre es ebenso, die gesamte Musik mit dem Philharmonischen Orchester Gießen unter Leitung von Jan Hoffmann zu hören, und das nicht nur Bellinis wegen, sondern auch wegen des extra für das Gießener Theater angefertigten Arrangements. Herbert Gietzen, jahrzehntelang Kapellmeister und GMD in Gießen und mittlerweile 75 Jahre alt, hat seiner alten Wirkungsstätte weiter die Treue gehalten und eine corona-gerechte Bearbeitung für 13 Instrumentalisten angefertigt. Sie besteht aus einem Holzbläserquintett (mit Horn), zwei Violinen, Violoncello und Kontrabass, Schlagzeug, Harfe, Harmonium und Klavier. Die tragende Begleitfunktion ist den Akkordinstrumenten und tiefen Streichern vorbehalten, während Violinen, Bläser und Schlagwerk einzelne dramatische Akzente setzen. Gietzen hat erklärt, er versuche „die dienende Funktion des Orchesters auch in kleiner Besetzung musikalisch bestmöglich“ zu gewährleisten. Tatsächlich gelingt ihm in der Bearbeitung des tragenden Orchestersatzes atmosphärisch noch etwas mehr, denn neben dem Klavier als eher handfest-nüchternem Klangkörper erweist sich das Harmonium als die „Orgel des kleinen Mannes“ (bzw. der Christen in Gefangenschaft) und die Harfe als Organ lyrischer Verzauberung. Erfreulich und lehrreich ist, wie Gietzen seine Verfahrensweise im Programmheft offenlegt. Möglicherweise müssen wir ja noch eine ganze Welle ohne komplette Orchesterbesetzungen auskommen und uns mit Arrangements arrangieren.