Vergleicht man die Uraufführung von Michael Wertmüllers Musiktheater „D • I • E“ in der Kraftzentrale des Landschaftsparkes Duisburg-Nord, mit der ersten Musiktheaterpremiere des laufenden Jahrgangs der Ruhrtriennale, dann erscheint Olga Neuwirths „Bählamms Fest“ in der Bochumer Jahrhunderthalle als ein geradezu konventioneller Opernabend.
Mit einem Orchester und einer Bühne, darauf ein Haus mit Landschaft drumherum und Menschen drin. Alles etwas surreal, aber doch mit einer nachvollziehbaren Handlung und vergleichsweise leicht entschlüsselbar. Man erkannte, was man vorgesetzt bekam, durch den Vergleich mit Bekanntem.
Dererlei Kriterien verschließt sich die jüngste Premiere bewusst und mit Vehemenz. Der sonderbare, faszinierend rätselhafte Abend, dessen Titel auch nichts über den Inhalt verrät, beginnt mit der banalen Frage „mögen sie vielleicht einen salat vorweg?“. Er endet nach anderthalb Stunde auf die Frage „wünschen sie sonst noch was?“ mit der Antwort: „einen espresso bitte“. Und mit einem „bitte danke gern“. Aus dieser Wortklammer könnte man zumindest auf ein Mehrgänge-Menü schließen, das den Zuschauern serviert wurde. Und da kommt es ja auch mehr auf den Geschmack an und den kulinarischen Lustgewinn, der aus dem Zusammenklang raffinierter Komponenten erwächst. Im Restaurant fragt man gewöhnlich ja auch nicht, wo das Rind aufgewachsen ist, was genau es gefressen hat und schon gar nicht, wie es ums Leben kam, um als Steak verzehrt zu werden. Hier geht’s um Genuss bei der Ernährung. Um egoistische Maßstäbe der Beurteilung eines Gesamtkunstwerks. So ähnlich funktioniert das auch an diesem Abend.
Mit den beiden Fragen, mit denen Textlieferant Rainald Goetz seine Wortsammlung eröffnet und beschließt, ist allerdings auch schon das Höchstmaß an Entgegenkommen bei der Deutung umschrieben, zu dem dieser Abend bereit ist. Ansonsten besteht er vor allem und entschieden auf der Autonomie der Kunst. Oder besser: der Künste.
Da ist zunächst natürlich die Musik, die der Schweizer Schlagzeuger und Komponist Wertmüller hier aus den verschiedensten Ecken des Musikuniversums zusammengefügt hat. Weit voneinander entfernt sind die Instrumentalisten auf drei Podesten stationiert. An den Stirnseiten stehen sich zwei Bands (Steamboat Switzerland, und Camille Emaille, Jealous) gegenüber. Hochgerüstet mit Schlagwerk und elektronisch verstärkt. Gleichsam dazwischen, an einer Längsseite der Halle, sind die vier Streicher des Asasello Quartetts postiert. Der Dirigent Titus Engel hat sein Podest mitten im Saal. Zwischen den auf einzeln stehenden Drehschemeln verteilten Zuschauern (deren korrekte Maskierung mit Eifer überwacht wird). Zusammen mit Regisseurin Anika Rutkofsky hält er alles zusammen, lässt die Bands manchmal aber auch einfach von der Leine und scheint selbst darüber zu staunen, wohin sie ziehen.
Für seine durchweg weiblichen Protagonisten freilich bleibt er der Fixpunkt bei ihrer vokalen und räumlichen Wanderung durch den Raum der Assoziationen. Vor und in den holografischen Bildprojektionen, die Thomas Stammer aus Kohlezeichnungen von Albert Oehlen kreiert hat. Auf den Laufstegen vor den zehn Projektionssegeln lassen sich die beiden Sopranistinnen Caroline Melzer und Sarah Pagin, ihre Mezzokollegin Christina Daletska, die Rapperin Catnapp aber auch Schauspielerin wie Sylvie Rohrer – jede auf ihre Art – auf die Spiele mit dem Klang der Worte ein. Machen sich dabei aber auch zum Teil der sich unentwegt verändernden Abstraktionen, die mit „holografischer Musikvisualisierung“ treffend umschrieben sind. Optisch sticht Burgschauspielerin Sylvie Rohrer als Conferencière heraus. Im hautengen roten Kleid, wie aus einem Otto Dix Bild entsprungen. Zur Stimmakrobatik kommt bei ihr eine Dosis Überschläge in luftiger Höhe dazu. Der Clou ist ihr Verschwinden. Sie tritt sich selbst als eine Projektion gegenüber, die ins Unermessliche wächst, mit dem Original wie die Katze mit der Maus zu spielen beginnt, sie verfolgt und dann verschlingt. Aus die Maus.
Die Wirkung dieses Abends kommt nicht dadurch zustande, dass der Sinn einer Geschichte durch Musik, Bewegung und Visualisierung sozusagen als der emotionale Umweg übers Gefühl verstärkt wird. Sie kommt hier allein aus diesem Umweg. Braucht weder Geschichte noch herkömmlichen Sinn. Sie entsteht daraus, dass eine Koloratur eine Koloratur, eine sinnliche Vokalise eine sinnliche Vokalise, eine Bewegung eine Bewegung ist. Und, dass aus der Melange von Allem etwas Anderes, Neues entsteht, das mit den herkömmlichen Maßstäben nicht zu bewerten, aber in seiner Wirkung zu spüren ist. Wenngleich das alles keinen erkennbaren direkten Bezug zur Lebenswelt hat, zu deren Zersplitterung in Elemente eines Albtraums oder auch einer Utopie aber schon.
Die Ruhrtriennale läuft noch bis 25. September. Allein schon, was die aktuelle Intendantin Barbara Frey bisher im Schauspiel selbst inszeniert hat („Der Untergang des Hauses Usher“ und „Die Toten“) und das, was sie beim Musiktheater ermöglichte, ist allemal festspielgemäß und verleiht diesem Jahrgang ein starkes Profil.