Das Theater Nordhausen kombiniert die Uraufführung der Oper „Kain und Abel“ von Christoph Ehrenfellner mit der Uraufführung von Ivan Alboresis Ballett „Verklärte Nacht“. Das ist mal ein Zeichen: In den Wochen vor Weihnachten des zweiten Coronajahres, die sich in den Opernhäusern, die noch spielen, anfühlen wie ein düsterer Vorabend, stemmt Nordhausen eine Uraufführung! „Kain und Abel“ von Christoph Ehrenfellner. Eine Oper für Solisten, Damenchor und Orchester.
Das Libretto von Anja Eisner und Daniel Klajner folgt der biblischen Überlieferung, wobei bei ihnen der Gott des Alten Testaments mit Adam zum übermächtigen Patriarchen verschmilzt.
Was Hennig Ehlert und sein üppig besetztes Loh-Orchester Sondershauen im tief abgesenkten Graben entfesseln, ist große Oper. Wie ein Schock heben zum Auftakt die Klagerufe der Mutter über den Tod bzw. Verlust ihrer Söhne an. Sie ist Eva, die Beklagten sind Abel und Kain. So beginnt in dieser Oper die Geschichte vom ersten Mord, der gleich noch als Brudermord daherkommt. Der Prolog ist die pure Verzweiflung, die zwölf Szenen, die darauf folgen, erzählen wie es dazu kam. Musikalisch erinnert das an die Agamemnon – Rufe der Elektra in Richard Strauss’ Einakter. Es ist auch eine orchestrale Wucht, die keine Zweifel daran lässt, dass Tragisches verhandelt wird. Hemmungen, sich in theatertauglich eingängiger Weise als ein dem spätromantischen Erbe verpflichteter Komponist zu erkennen zu geben, hat der dem Haus schon von 2016-19 als Composer in Residenz verbundene, 1975 geborene Salzburger nicht. Bis hin zu den Schlägen des Trauermarsches in Wagners „Götterdämmerung", die er sich ausborgt, um Evas Trauer über den toten Abel zu zelebrieren. Dieser unbefangene Komponistenblick zurück wirkt kühn, wo oft esoterische musikalische Grenzgängerei als Ausweis für Originalität gilt.
Anna Danik trägt die vokale Hauptlast des Abends – sie verleiht ihrem Schmerz über den Verlust ihrer beiden Söhne, aber auch dem Unglück über die Rechtlosigkeit ihrer Stellung – vor allem hochdramatisch gesungenen Ausdruck. Das ist so imponierend, dass man die ganze Oper auch Eva nennen könnte, wenn das nicht assoziativ in die Irre führen würde. Diese Eva ist nicht die Inkarnation oder der Inbegriff von Weiblichkeit, sondern eine tragische Figur. Eine, die sich am Ende nur dadurch befreien kann, indem sie Adam tötet. Was ja nun auch keine Lösung ist, wenn man ans Fortbestehen der Menschheit glauben möchte.
Was wir hier erleben ist sozusagen der Sündenfall des Patriarchats. Er ist der (gottgleiche) Herr und verschenkt seine Neigung nach Belieben. Nicht der im Schweiße seines Angesichts arbeitende Kain ist der Liebling, sondern der leichtfüßige Abel. Da aber Kain seinem Herrn und Vater unter allen Umständen gefallen will, wird er zum Mörder seines Bruders. Das ist nicht nur tragisches Einzelschicksal, sondern der bis heute weiterwirkende Erbteil einer patriarchalischen Disposition des Denkens.
Während das Libretto die überlieferte Geschichte mit dem Ehrgeiz ausgleichender Gerechtigkeit in Richtung einer Eva verschiebt, die von der klagenden, über die reflektierende zur handelnden Frau wird, bleiben Daniel Klajner (der Nordhäuser Intendant war nicht nur Librettist sondern führte auch Regie) und Birte Wallbaum (Bühne und Kostüme) szenisch im archaischen Kontext. Wie zwei Meteoriten aus der Vergangenheit beherrschen zwei Fels-Brocken die Szene. Bedrohlich wie ein Panzer oder eine Kommandohöhe für Adam der eine. Zeitweise mit der Anmutung eines Feldes oder eines blühenden Baums der andere. Aus der nebligen Tiefe des Raums taucht ein paar Mal der blinde Seher Videns auf. Jörg Neubauer dafür eine Sprechweise zu verordnen, die das Pathos der Musik zu imitieren versucht, irritiert allerdings. Dass Tänzer Kino Luque als Abel wie eine musikalisch flötenleichte Lichtgestalt durch die Szene tanzt und von Amelie Petrich mit „Abel-Vocalisen“ als Figur komplettiert wird, ist so schlüssig, wie es Thomas Kohl gelingt, die Bürde Adams mit düsterer Miene und vokaler Finsternis zu verkörpern. Philipp Frank bewältigt seinen Kain zwischen erwartungsvollem Stolz auf die eigene Leistung und dem Absturz in die Verzweiflung und den Trotz des Zurückgewiesenen, der zu Mörder wird, überzeugend. Der Damen des Chores vervollständigen die archaische Wucht dieser Geschichte aus grauer Vorzeit mit ihren Nachwirkungen in der Psyche bis heute.
Nach dieser atemberaubenden Geschichte um (oft verquer ausgedrückte) Liebe und (destruktiv scheiternde) Emanzipation wirkt der zweite Teil des Abends wie eine Ermutigung. Zu Arnold Schönbergs Streichorchesterfassung von „Verklärte Nacht“ (nach Richard Dehmels Gedicht, in dem ein Mann eine Frau liebt, obwohl sie ein Kind von einem anderen erwartet) hat Ivan Alboresi ein Stück für eine Frau (Otylia Gony) und zwei Männer (Thibaut Lucas Nury und Alfonso López González) choreografiert. Atmosphärisch, emotional und virtuos – unter hängenden Streifen wie in einer Mittsommernacht (Bühne: Birte Wallbaum) und mit schlichten zweiteiligen Einheitskostümen (Anja Schulz-Henrich), die wohl aufs Allgemeinmenschliche zielen. Es ist eigentlich ein Stück über eine Frau zwischen zwei Männern, die da aus einem gleichsam kollektiven Raunen der Körper (samt babylonischem Sprachgewirr) entsteht, für das das zwölfköpfige Ensemble als Ganzes den Auftakt und das Finale liefert. Die Botschaft lautet hier – es wird nicht ohne Suchen und Irritationen abgehen, aber die Liebe ist möglich. Und eine so originelle, wie ins sich stimmige und überzeugende Kombination von Opernnovität und Ballett auch.
Der Jubel des coronabedingt locker platzierten Publikums war entsprechend.