Alle sitzen im selben Bus oder wohnen im selben Haus. Oder auch: Wie Mainz es doch noch auf die Opernbühne schafft. Traditionell wird Ruggero Leoncavallos Erfolgsstück „Pagliacci“ („Der Bajazzo“) gerne mit Pietro Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ kombiniert. Das Staatstheater Mainz hat als Pendant stattdessen Giacomo Puccinis selten gespielten Opern-Erstling „Le Villi“ gewählt. Der gehört interessanterweise zu den ganz wenigen Opern, in denen auch die Stadt Mainz eine Rolle spielt.
Dass die entsprechende Episode auf der Bühne gar nicht gezeigt wird, stellt für eine Mainzer Inszenierung natürlich eine besonders Herausforderung dar. Regisseurin Verena Stoiber löst sie recht geschickt und findet mit Bühnenbildnerin Susanne Gschwender für „Le Villi“ und „Pagliacci“ einen ästhetisch überzeugenden und inhaltlich anregenden Rahmen.
Puccinis Oper „Le Villi“, die er mit gerade einmal 26 Jahren für den 1883 ausgeschriebenen Einakter-Wettbewerb des Verlegers Edoardo Sonzogno einreichte und 1884 noch einmal umarbeitete, spielt merkwürdigerweise in Deutschland. Tatsächlich gab es auf der italienischen Opernbühne gegen Ende des Ottocento eine zeitweilige Begeisterung für den Norden, die in Alfredo Catalanis „Loreley“, Alberto Franchettis „Germania“ und Leoncavallos „Der Roland von Berlin“ gipfelte. Puccinis Librettist Ferdinando Fontana griff für sein Szenario zurück auf die schauerromantische Erzählung „Les Willis“ des französischen Journalisten, Erzählers und Satirikers Jean-Baptiste Alphonse Karr, die 1856 in der speziell für Bahnreisende aufgelegten „Bibliothèque des Chemins de Fer“ des Pariser Verlags Hachette erschien. Karr war selbst der Sohn eines in Deutschland geborenen Pianisten und Komponisten, und das Motiv der „Willis“ – der verlassenen Bräute, die sich an ihren untreuen Verehrern rächen – beschrieb bereits 1837 Heinrich Heine in seinem Essay „Elementargeister“. Adolphe Adam verwendete es 1841 für sein Ballett „Giselle“. Fontana verkürzte und vereinfachte Karrs Erzählung pragmatisch auf die Dimensionen eines Opern-Einakters und verbannte die Mainzer Episode in einen auf der Opernbühne ungewohnten Erzählerbericht. Übrig blieb als Schauplatz der aus italienischer Perspektive sicher besonders düstere und sagenumwobene Hochschwarzwald. Das dramaturgische Defizit kompensierte Puccini interessanterweise durch zwei sinfonische Intermezzi, die in der zweiaktigen Endfassung von 1884 erhalten blieben.
Es ist der Wald, den das Mainzer Publikum als erstes erblickt; bereits vor Beginn ist er auf zwei Bildschirmen links und rechts der Bühne zu sehen Und es ist Ivan Krutikov, der Erzähler, der die Ereignisse ins Rollen bringt. In Verena Stoibers Inszenierung spielt er zugleich einen Notar, der die Verlobungsringe für Roberto (Vicenzo Costanzo) und Anna (Lauren Margison) mitbringt. Allem Anschein nach hat er Roberto bereits vor einer Weile die Kunde von der reichen Erbschaft seiner Mainzer Tante überbracht und ihm eine entsprechende Immobilie vermittelt, denn Roberto führt seine Anna in ein für Schwarzwälder Verhältnisse modernes und geradezu luxuriöses Eigenheim: Es hat auf jeder Seite drei Ebenen, die jeweils über eine halbstöckige Treppe verbunden sind – und damit Platz genug für eine kurze, aber intensive Einweihungs- und Verlobungsfeier und mehrere private Rückzugsmöglichkeiten. Es gibt Ansprachen, Sekt und Tanz, und natürlich wird das Ganze auch auf Video mitgefilmt. Einziger Wermutstropfen in der allgemeinen Freude: Roberto muss am selben Abend noch abreisen, um die Erbschaft offiziell anzutreten. Anna hat eine eminente Angst vor dem Verlassenwerden; möglicherweise hat sie bereits die fatale Sage von den „Willis“ im Kopf; im Hintergrund sieht man jedenfalls am Waldesrand schon eine weiß verschleierte Gestalt herumgeistern. Doch nachdem Annas Vater Guglielmo (Luca Grassi) ein langes, warm empfundenes Segensgebet gesprochen und die Verlobungsgäste Kerzenlichter aufgestellt haben, hellt sich die zwischenzeitlich düstere Stimmung wieder auf.
Obwohl Puccinis Musik zu „Le Villi“ in Melodik, Satzweise und Dramaturgie nicht nur durch die italienische, sondern auch durch die französische Oper, insbesondere Bizet und Massenet, geprägt erscheint, zeigen sich schon charakteristische Stärken des Komponisten: Die vorwärtstreibende Dynamik der Musik, das Pendeln zwischen Verzweiflung und Hoffnung, die enge Verbindung von Zartheit und Emphase, und die starke Empathie für die Bühnenfiguren, insbesondere die leidenden. Roberto muss, um nach Mainz zu kommen, erst durch den Wald laufen. Danach sieht man ihn im Video allein im Eisenbahnabteil durch den Schwarzwald fahren – seinen Gedanken nachhängend, einem unbekannten Ziel entgegen fahrend. Auf dem Rückweg zeigt Jonas Dahls Video hingegen, wie er mühsam, angestrengt und von bösen Vorahnungen gequält, durch den Wald nach Hause stapft. Dabei passen sich beide Verfilmungen organisch dem Gestus der Musik an. Was dazwischen in Mainz passiert ist, deutet der Erzähler nur an: Roberto sei einer verführerischen „Sirene“ in die Hände gefallen und nach Monaten in verarmtem Zustand wieder verlassen worden. Wahrscheinlich galt Mainz sowohl dem Erzähler als auch der Librettistin als Hochburg rheinischen Leichtsinns. Im Video sehen wir dazu die passende Schlüsselszenen: Roberto sitzt allein in einem Mainzer Stadtbus. Vor ihm steht die inzwischen 80-jährige Mainzer Fastnachtsikone Margit Sponheimer. Als eine attraktive junge Frau mit offener Sektflasche einsteigt, entsteht sofort eine Mini-Party, bei der die junge Dame spontan neben Roberto Platz nimmt. Nur ein vorne sitzender Clown bleibt unbeteiligt. Eine Filmfolge später sehen wir Roberto dann abgebrannt und verlassen vor einer Mainzer Neustadt-Kneipe.
Anna ist derweil der Verzweiflung anheimgefallen. Im Grunde ist es ein Prozess der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, bei dem sie – anders als in Karrs Vorlage – niemand tröstet oder unterstützt. Erst zieht Anna noch ihr Hochzeitskleid an und schaltet auf dem Bildschirm im Schlafzimmer das Verlobungsvideo an, aber wenig später liegt sie schon in der Badewanne und schneidet sich (vermutlich) die Pulsadern auf. Vater Guglielmo erscheint erst wieder auf der Bildfläche, als die Tochter schon tot ist. Glaubwürdig beschwört er die Rache des Himmels und der Willis auf den Verführer herab und hat dabei ein schlechtes Gewissen ob des unchristlichen Fluchs. Roberto bereut ganz offensichtlich und hat ehrliche Sehnsucht nach Anna. Doch die reiht sich ein in die Schar der Willis, die sich eine nach der andern übers Treppenhaus der Luxuswohnung einschleichen. Als der Verzweifelte endlich Anna (bzw. ihre Wiedergängerin) in die Arme schließen kann, endet dies für ihn wohl mit einem Sturz vom Dach. (So recht war das in der Premiere nicht zu erkennen.) Hinter der Bühne ruft der Geisterchor ein blasphemisches „Hosianna“. Anna aber – soviel Distanzierung vom Klischee muss heute sein – kommt ins Erdgeschoss, zieht vorm Publikum den Schleier ab und genehmigt sich einen Energy-Drink.
Insgesamt ist festzustellen, dass sich die Inszenierung dem musikalischen Verlauf sehr geschickt anschmiegt, und dass Daniel Montané, Erster Dirigent am Staatstheater (nach GMD Hermann Bäumer), die Darsteller, den Chor und das Philharmonische Staatsorchester sehr organisch und mit wohldosierter Leidenschaft durch die Partitur führt. Die sängerischen Leistungen sind sehr ansprechend. Bewundernswert ist Lauren Margisons manchmal engelhafte Leichtigkeit auch in exponierter Lage. Vicenzo Costanzo wirkt in den Höhen etwas angestrengt; seiner darstellerischen Glaubwürdigkeit tut das keinen Abbruch.
Nach der Pause begegnen wir Ivan Krutikow, dem Erzähler, als Tonio in „Pagliacci“ wieder. Den Prolog singt er im Overall eines Hausmeisters, angetan mit Schrubber, Eimer und Warnschild. Man erblickt dieselbe Bühnenarchitektur wie in „Le Villi“, nun angewandt auf großstädtische Wohnverhältnisse. Neun sehr verschiedene Parteien leben hier auf engem Raum, darunter ein alter Herr mit Kreuzworträtsel-Heft, eine vierköpfige Familie mit Sohn und Oma, ein älteres Paar, das bis in den Abend im Homeoffice vor dem Bildschirm sitzt (mit Hemd und Krawatte oberhalb der Gürtellinie, in Unterhose unterhalb), eine permanent tanzende junge DJane am Rechner, eine Yoga und Meditation praktizierende Zweierbeziehung. Auch Canio, der Bajazzo (Antonello Palombi), ist hier mit Nedda (wiederum Lauren Margison) und der gemeinsamen Tochter im Grundschulalter zuhause. Er ist in dieser Mainzer Version ein Straßenclown; ein ausgedehntes Video zeigt parallel zum Prolog seinen Vormittag: Er bringt die Tochter aus der Mainzer Neustadt auf eine beliebte Grundschule im Stadtteil Gonsenheim und fährt dann mit dem Stadtbus ins Zentrum, wo er sich in der Männertoilette am Markt als Clown verkleidet. In dieser Rolle versucht er, wenig erfolgreich, mit harmlosen Scherzen die Passanten in der Fußgängerzone zu erschrecken. Mit mageren Einnahmen fährt er einsam und in voller Montur im Bus nach Hause – ohne das muntere Trio aus „Le Villi“ zu bemerken, dass sich hinter ihm mit der Sektflasche vergnügt. Canio und Roberto sitzen im selben Bus, aber auf jeden wartet sein eigenes Unglück.
Nicht recht stimmig an der Inszenierung ist, dass Canio bei seinem Eintreffen daheim von einer begeisterten Menge (Opernchor sowie Jugendliche aus dem Domchor und dem Mädchenchor am Dom und St. Quintin) begrüßt wird. Diesem Echo gemäß müsste er als Komiker doch zumindest eine respektable Lokalgröße darstellen. Welche Rolle er in der Vorstellung spielt, zu der er für 23 Uhr einlädt, wird auch nicht recht klar. Was sich auf der Bühne abspielt, ist nämlich im Grunde ein alltägliches Eifersuchtsdrama – ähnlich wie in Kurt Weills Broadway-Oper „Street Scene“. Hausmeister Tonio ist hinter Nedda her und wird abgewiesen; als er Neddas sympathischen Liebhaber Silvio (Brett Carter) bei ihr erblickt, ruft er Canio, der mit dem heruntergekommenen Nachbarn Beppe (Myungin Lee) in die Kneipe gegangen ist. Die zeitweise lautstarken Auseinandersetzung gehen an den Hausbewohnern vorbei; nur die Mutter der Familie im Erdgeschoss links wirft manchmal einen besorgten Blick aus dem Fenster. In diesem Haus lebt jede Partei für sich. Allerdings gibt es zwei synchrone Momente im Tagesablauf: Als die Kirchenglocken zur Vesper und „zum Abendmahl“ rufen, springen junge Leute mit schweren Ranzen von verschiedenen Lieferdiensten die Treppen hoch und bringen an jede Wohnungstür das jeweils bestellte Essen. Und um 23 Uhr blicken sämtliche Bewohner gebannt auf ihre Bildschirme – auch Nedda, die eigentlich mit Silvio gerade über eine Flucht nachdenkt. Anstelle der Komödie im Straßenraum erscheint im Fernsehen eine neue Episode der Trickfilmserie „Pagliacci“. (Clara Hertel und Jonas Dahl haben sie in liebevoller Kleinarbeit gezeichnet und animiert.) Nedda ist hier eine flotte Wespe, Beppe ein munterer Grashüpfer und Tonio ein gemeiner Mistkäfer.
Als der echte Canio heimkehrt, löst Tonio am Sicherungskasten einen Stromausfall aus; Lampen und Bildschirme erlöschen. Der vor Eifersucht rasende Clown ersticht erst Nedda und dann Silvio, der ihr zur Hilfe kommen will, aber zu lange von Tonio festgehalten wird. Mitten im Geschehen hockt einsam und verstört Canios und Neddas Tochter. Spätestens jetzt blicken alle Hausbewohner aus dem Fenster hinunter. Niemand hat versucht einzugreifen. Der Vorhang fällt, nur Tonio geht seitlich nach vorne ab und bemerkt zynisch: „La commedia è finita“. (Die distanzierende Bemerkung hat die Opernpraxis Canio in den Mund gelegt, aber Puccini hatte sie tatsächlich Tonio zugedacht.) Ungewöhnlich ist, dass sich ein Theater die Inszenierung des Theaters auf dem Theater entgehen lässt.
Hier in Mainz sind die „Pagliacci“ keine professionellen Possenreißer mehr, sondern Alltagsmenschen, die das Handlungsmuster der Intrige dermaßen verinnerlicht haben, dass sie die Texte des Trickfilms mitsprechen bzw. -singen können. Auch unter ihnen regieren – ähnlich wie unter den Personen in „Le Villi“ – innere Isolation, Wiederholungszwang, Eskalation nach Klischee und selbsterfüllende Prophezeiung. Entsprechend verlagert sich der Fokus weg von der tragischen Hauptfigur, die sich so leidenschaftlich in ihre Rolle hineinsteigert, dass sie mit tödlichen Folgen aus eben dieser Rolle fällt. Antonello Palombi singt seine große Arie „Ridi, Pagliacco“ dennoch wirklich ergreifend und wird dafür mit langem Zwischenbeifall belohnt. An dieser Stelle sperrt sich das Werk merklich gegen die Nivellierung. Musiziert und gesungen wird ansonsten durchweg überzeugend, auch wenn die visuellen Reize hier manchmal die Wahrnehmung der Partitur überlagern. Der Abend insgesamt ist wirklich spannend, szenisch sorgfältig gearbeitet, musikalisch attraktiv – und er gibt zu denken.