Es war eine Premiere mit Hindernissen, auf deren Stattfinden schon keiner mehr gewettet hätte. Die Generalprobe gab es schon im Frühjahr 2021 – die Premiere selbst wurde dann mehrfach verschoben. Jetzt endlich hob sich der Vorhang für Jochen Biganzolis „Tristan und Isolde“ Inszenierung doch noch. In dem Falle ist es inhaltlich relevant daran zu erinnern, dass er sein Konzept im April 2019 für das Theater Hagen erarbeitet hat, also noch lange vor Ausbruch der Pandemie. Wer sie jetzt in Halle in modifizierter Form miterlebte, könnte allerdings auf die Idee kommen, dass es sich um eine bewusst corona-bekämpfungskompatible Inszenierung handelt.
Das Bühnenbild von Wolf Gutjahr (die Kostüme steuert Katharina Weissenborn bei) hält für jeden der Protagonisten einen ganz persönlichen Bühnenkasten bereit. Fünf separate Kleinbühnen. Für Tristan links oben und Isolde rechts unten. Unter Tristan hat Brangäne ihren Raum (mit Badewanne und Fluchtmöglichkeit durch die Einbauschränke). Über Isolde ist das dezidiert spießige Schlafzimmer von König Marke. Rechts am Rand ist ein Kurwenal in Flecktarnuniform damit beschäftigt, von einem Baugerüst aus die Wände mit Zeitungsausschnitten und Tristanfotos zu bekleben. Jeder bleibt in seiner Welt gefangen. Für die kurzen Auftritten von Seemann, Steuermann und Hirt gibt es einen schmalen Durchgang, der auch einen Blick in die Tiefe des bis auf die Brandmauern leeren Bühnenraumes freigibt. Dort ist das Orchester mit Abstand verteilt.
Aus dieser (nun wirklich coronabedingten) Modifikation zu Hagen schlägt man in Halle aber musikalisch szenisches Kapital. Im Vorspiel werden Orchester und Dirigent auf Zwischenvorhänge projiziert. Man kann also sehen, dass der fabelhafte Michael Wendeberg ohne Noten und Pult auskommt. Das Orchester, das sich ihn als GMD einmal sichern wird, kann sich glücklich schätzen – in Halle hat er den Status des Propheten im eigenen Land. Diese Postierung der an diesem Abend sensibel und mit Leidenschaft aufspielenden Musiker der Staatskapelle hinter den Sängern dieses XL-Bühnensetzkastens irritiert zwar akustisch für einen Moment, erweist sich dann aber als großer Vorzug. Es gibt einen Effekt, der an den Bayreuther abgedeckten Graben erinnert, und das Fluten der Musik nie zur Gefahr für die Sänger werden lässt. Mag der Bayreuthvergleich beim Orchester ein wenig der Euphorie des Premiereneindrucks geschuldet sein, den das Publikum im nicht ausverkauften Haus begeistert bejubelte, bei den Sängern ist er es nicht.
Heiko Börner und Magdalena Anna Hofmann halten als Tristan und Isolde jedem Vergleich stand. Auch wenn sie sich in dieser Inszenierung immer nur imaginär ineinander verlieren, passen die Stimmen mit ihrem Timbre, ihrer Strahlkraft und Unangestrengtheit ideal zueinander. Hinzu kommt – und das ist auch bei Wagner „daheim“ in Bayreuth nicht selbstverständlich – eine außergewöhnliche Wortverständlichkeit! Was die beiden boten war schlichtweg atemberaubend. Aber auch drumherum stimmte die Besetzung: Marlene Lichtenberg als intensive Brangäne und der Hallenser Singdarsteller-Recke Gerd Vogel (auch in stimmlicher Bestform!), Ki-Hyun Park als König Marke, Daniel Blumenschein als Melot, aber auch Robert Sellier als Hirte und junger Seemann sowie Andrii Chakov mit seinem Kurzauftritt als Steuermann sorgten für den vokalen Glanz zum Rausch der Tristanmusik. (Der Chor war zugespielt und klang auch so.)
Allein die Übertitel waren ein echtes Ärgernis. So wie sie mit Sonderzeichen übersät waren, konnte man auf einen Virus tippen. Oder auf extreme Schlamperei. Dabei steht im Programmheft sogar ein Name hinter der Funktion Übertitelinspizienz. Angesichts der künstlerischen Glanzleistungen soll der ebenso übergangen werden, wie das Unverständnis zur faktisch nicht vorhandenen Werbung für diese Wagnerpremiere.
Biganzolis Ansatz, die Isoliertheit der Protagonisten und dabei die Kraft ihrer emotionalen Projektionen zu zeigen, ging jedenfalls (dennoch) voll auf. Anfangs haben wir den ein wenig selbstverliebten – oder in sich selbst verloreneren – weiß gekleideten Tristan in dem größten der Bühnenkästen oben links mit Riesenfoto von sich selbst an der Rückwand. Diese neonweiße Zelle ist die zum Raum gewordene Selbstisolation des Tages in der Tag-Nacht Metaphorik des Textes. Isoldes Welt dagegen ist dunkel und lediglich mit einem Ledersessel bestückt. Die ganz in schwarz Gekleidete nutzt die dunkelgrauen Wände für reflektierende Sprüche, auch für einen Kreideumriss ihrer selbst und einen von Tristan. „Das ist mein Brief an eine Welt, die niemals schrieb an mich.“ Aus dem Programm erfahren wir, dass er von Emily Dickinson aus dem Jahre 1863 stammt – also aus der Entstehungszeit des „Tristan“. Eine von den Hausaufgaben, die man mit nach Hause nimmt.
Die beiden verlassen ihre Zelle nicht, aber nähern sich dennoch an. Er klebt sich ein Rotes I aufs T-Shirt, sie ein T auf ihres. (Das rote I für Isolde, das er sich eigentlich ebenso wie Isolde das rote T für Tristan auf die Brust kleben sollte, war irgendwie verschusselt worden – backstage war diese Premiere keine Qualitätsausweis für die Oper Halle). Jedenfalls brauchen die beiden eine rein räumliche Nähe gar nicht, um ineinander aufzugehen. Zugleich verlieren sich beide vor einem projizierten Porträt des jeweils anderen ineinander. (Auch hier verirrte sich das falsche Foto Tristans an die Rückwand … ein Schelm, wer Böses dabei denkt.)
Wenn im großen Liebesduett im zweiten Aufzug, dem „O sink hernieder, Nacht der Liebe“, alles im Dunkel versinkt und nur die beiden Räume von Tristan und Isolde unwirklich leuchten, dann wird aus einer dezidierten Nachdenkbühne ein sinnliches Ereignis, das zudem genau der Musik entwächst. Interessant ist neben den Einzelporträts von Brangäne und Kurwenal, vor allem das des Königs. Hier hat Biganzoli am meisten nachgeschärft. Dieser König verzweifelt nicht nur an seinem mehrfachen Verlassenwerden. Wenn er ein Kleid seiner Frau überzieht, eine Perücke aufsetzt, und das Foto der Verstorbenen mit einem von Tristan überklebt, dann wird zum Bild, was der Text ohnehin erstaunlich unverblümt preisgibt. Nach dem Tod seiner Frau, war Tristan die Liebe seines Lebens und wurde verraten. Ein Aspekt den auch die jüngste (in szenischer Hinsicht konträre, aber musikalisch und in dieser Beziehung vergleichbare) Tristan-Inszenierung von Elisabeth Stöppler in Chemnitz betonte.
Auch am Ende gelingt es Biganzoli aus der Tag-Nacht bzw. Hell-Dunkel-Dialektik, die der Text beschwört, eindrucksvolles Theater zu machen. Wenn Tristan tot auf seinem Stuhl zusammensinkt, verschwindet die Rückwand hinter ihm. Er bleibt nur als dunkle Silhouette im gleißenden Gegenlicht sichtbar. Diesmal beenden, neben dem tödlich getroffenen Kurwenal, auch Brangäne und der König selbst ihr irdisches Leben. Wenn sich kurz vor Isoldes „Ertrinken, Versinken … “, plötzlich alle wieder erheben, wird klar, dass sie sich in einer anderen Welt wiederfinden. Gemeinsam mit einer Isolde die mit ihren letzten Tönen in eine absolute Dunkelheit entschwindet.
So krönt ein grandioser Theatermoment eine nur scheinbar minimalistische, in Wirklichkeit aber durchweg spannend psychologisierende Inszenierung. Die, das sei der Vollständigkeit halber hinzugefügt, geht programmatisch noch auf die Kappe der Intendanz von Florian Lutz.
Die Annahme, dass man eine innere Handlung nicht spannend umsetzen könne, widerlegt diese Inszenierung genauso überzeugend, wie die gelegentlich geäußerte Behauptung es gäbe keine Wagnersänger. Wer das nicht glaubt, hat (hoffentlich) noch zwei Mal die Gelegenheit, sich in Halle vom Gegenteil zu überzeugen: und zwar am 27. Februar (16.00 Uhr) und am 18. April (15.00 Uhr).