In Dortmund hat Robert Wilson gerade Christian Friedel seinen „Dorian“ nach Oscar Wildes Roman auf den Leib geschneidert. Der daheim gerade in Dresden als Macbeth brillierende hat natürlich eigene Songs beigesteuert. Wilson wusste schon, was er an dem Alleskönner hat. Stand natürlich mit seiner Virtuosität vor oder hinter ihm – ganz wie man will – im Geiste mit auf der Bühne, stellte ihn aber nicht in den Schatten. Und wenn, dann als Stilmittel. In seiner neuesten Kreation gibt es zwar mehr als einen Protagonisten, aber der Thalia-Star Jens Harzer ist das Zentrum. An diesem Hamburger Theater hat Robert Wilson schon oft reüssiert. So 1990 mit seinem legendären „The Black Rider“ zur Musik von Tom Waits oder 1996 mit „Time Rocker“ und zuletzt, vor 22 Jahren, mit „POEtry“ zur Musik von Lou Reed.
Für das aktuelle Stück „H-100 seconds to midnight“ hat der Guru der Minimal Musik Philip Glass die Musik beigesteuert. Dominiert wird der Abend aber von einer Wort-Musik, um die letzten Fragen der Existenz gleich der ganzen Menschheit. Inspiriert von der libanesisch us-amerikanischen Malerei- und Autorenlegende Etel Adnan (1925-2021) und dem Physiker-Genie Stephen Hawking (1942-2018). Das H steht also für Hawking, die Redewendung könnte man mit dem berühmten „fünf vor zwölf“ übersetzten. Der Countdown für den Weltuntergang. Hawking gehört zu den wenigen seiner Zunft, die es geschafft haben, physikalische Grundfragen ins Philosophische zu hieven und obendrein ins Populärwissenschaftliche zu übersetzen.
Um daraus Kunst zu machen, braucht es allerdings schon einen Könner wie Robert Wilson (81). Die an die Grenzen des Universums reichende Präzision des Denkers und die Akkuratesse und der Perfektionismus des Bühnenmagiers passen zusammen. Wenn der zentrale Protagonist des Abends Jens Harzer immer wieder sagt, dass das Quadrat die Leidenschaft des Kreises ist, ist genau das auf den Punkt gebracht.
Das Spiel fängt mit einem ausgiebigen Kreischen und Krischen an. Vielleicht der gänzlich unharmonische Uranfang von etwas? Dann öffnet sich ein Ausschnitt in der schwarzen, vierten Wand und man sieht Jens Harzer starr dasitzen. Natürlich imitiert er nicht Hawkins körperlichen Ausnahmezustand im Rollstuhl – er imaginiert seine geistige Leuchtkraft, mit der der sich ja nicht nur über seine Bewegungs-, sondern auch seine Sprachbeschränkung hinwegsetzte, um sich bis an die Grenzen der Begreifbarkeit von Zeit und Raum aufzuschwingen.
Wilson hochentwickeltes Ausdrucksinstrumentarium liefert dafür Bilder von so karger wie betörender Schönheit. Eine stürzende Hausfassade etwa. Dazu immer wieder abrupte Licht- und Szenenwechsel. Schlichte Kostüme und perfekte Masken. Stumme Schreie und millimetergenau abgezirkelte Bewegungen. Wilson-Theater wirkt über seine Perfektion, und das nur, wenn es funktioniert. Bei ihm wird Wirklichkeit nicht nachgespielt oder verfremdet – es wird eine eigene kreiert. Ohne Handlung aber mit einem szenischen Crescendo. Von der porträtierenden Nahaufnahme über Figurenkonstellationen zu einer von Lucinda Childs dezent choreografierten Landschaft.
Jens Harzer trägt die Hauptlast des Textes und findet vor allem den Sound der Sprache. Im Grunde ein Endlosmonolog, der immer mal ein Echo findet. Mal folgt ihm Tim Poraht wie ein Alter Ego. Dann liefert die wunderbare Barbara Nüsse einen Kontrapunkt. Oder Marina Galic und Pauline Rénevier tauchen auf und greifen auf, was H wie Harzer oder Hawking vorgibt, anregt.
Sie fragen sich, ob es einen Gott gibt. Immer wieder. „Als die Menschen auch einen Computer fragen, antwortete der: Ja, ab jetzt!“ Was wirklich nur auf den ersten Blick nach einem Witz aussieht. Sie artikulieren sich auf deutsch und auf englisch, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Lassen sich von der Musik tragen und behaupten sich ihr gegenüber. Sie stellen Fragen wie aus Kindermund. Nach Zeitreisen, nach dem Big Bang und nach den schwarzen Löchern. Auch der Engel der Geschichte aus Walter Benjamins genialer Beschreibung von Paul Klees Angelus novus, kommt vor. Da weht ein Sturm vom Paradiese her, der diesen Engel mit dem Rücken zur Zukunft von sich wegweht und den wir Fortschritt nennen. Der Sog der Musik mit seinen dröhnenden Gongschlägen steigert sich gegen Ende geradezu apokalyptisch. Zum Verklingen des letzten Tons bleibt das Lachen eines Kindes im Raum. Vielleicht ist es ja auch das Lachen des Engels der Geschichte, dem es gelungen ist, sich umzudrehen und in die Zukunft zu blicken?