Im Februar 2018 ist Altbundespräsident Christian Wulff zum Präsidenten des Deutschen Chorverbandes (DCV) gewählt worden. Er trat damit die Nachfolge von Henning Scherf an, der den DCV seit 2005 geführt hatte. Für die nmz hat ihn Juan Martin Koch zur aktuellen Arbeit des Verbandes und zur Rolle der Chormusik allgemein befragt.
neue musikzeitung: Welche Rolle spielte Musik allgemein und Chormusik speziell bisher in Ihrem Leben und was hat sich seit der Übernahme des Präsidentenamtes beim DCV daran geändert?
Christian Wulff: Musik war für mich immer wichtig, auch wenn ich selbst nie musiziert habe. Ich habe in meinen verschiedenen Ämtern oft erleben dürfen, wie wunderbar verbindend Musik wirken kann. Dass das auch auf Chöre zutrifft, habe ich auch schon früh gemerkt, etwa im Rahmen des Musiklandes Niedersachsen oder im Kontakt mit den Baltischen Staaten als Bundespräsident. Aber natürlich hat sich meine Wahrnehmung durch das Amt als Präsident des DCV verändert: Ich entdecke immer noch und immer wieder Aspekte, die mich bewegen und die einfach großartig sind. Menschen, die überall im Land Tolles in Chören leisten, nicht nur musikalisch, sondern weil sie unsere Gesellschaft durch ihr ehrenamtliches Engagement tragen. Das ist wunderbar und dem muss seitens der politischen Entscheidungsträger viel mehr Beachtung geschenkt werden.
nmz: Sie haben die Präsidentschaft des DCV in einer durchaus schwierigen Phase übernommen. Was waren die größten Herausforderungen seit Beginn Ihrer Amtszeit?
Wulff: Ich glaube, die großen Herausforderungen knüpfen an das Gesagte an und gelten eigentlich für alle Verbände, für das Ehrenamt insgesamt: Einerseits steigt die Bedeutung von Chören, Verbänden und Vereinen wegen ihrer gesellschaftlichen Wirkkraft stetig. Gleichzeitig sehen wir andererseits, dass Menschen immer weniger bereit sind, sich ehrenamtlich zu engagieren oder auch nur sich in Form von Mitgliedschaften dauerhaft zu binden. Diese gegenläufigen Entwicklungen drohen das Ehrenamt nicht nur zu überfordern, sondern legen die Axt an das Fundament, das diese Gesellschaft mitträgt. Hier sind wir alle gefordert, nachhaltige Lösungen zu finden. Auch über weitergehende institutionelle Förderungen muss auf allen Ebenen dringend gesprochen und positiv entschieden werden.
nmz: Gegen Ende der Amtszeit Ihres Vorgängers Henning Scherf waren acht Landesverbände aus dem DCV ausgetreten. Er sah die Gründe unter anderem darin, dass einige mit dem Tempo, das in der Geschäftsstelle mit neuen Projekten und strukturellen Veränderungen vorgelegt wurde, „überfordert“ waren. In welchem Tempo ist man derzeit unterwegs und besteht die Aussicht, dass es zu Wiedereintritten kommt?
Wulff: Wir sind in Gesprächen, aber natürlich verheilen manche Wunden nur langsam, und ich habe auch den Eindruck, dass sich einige der Ausgetretenen erst einmal in der Situation eingerichtet haben. Am Ende sind wir als DCV in der Pflicht, den ausgetretenen Verbänden und unseren Mitgliedern gegenüber deutlich zu zeigen, warum sich eine Mitgliedschaft bei uns mehr als lohnt. Je attraktiver die Mitgliedschaft, umso eher werden sich viele – übrigens auch neue – den Eintritt überlegen. Daran arbeiten wir mit Hochdruck.
nmz: Einige Austritte hatten ja unter anderem auch mit dem Deutschen Chorzentrum in Berlin zu tun. Wie ist der aktuelle Stand bei den Bauarbeiten und bei der inhaltlichen Planung?
Wulff: Das Deutsche Chorzentrum kommt gut voran und wird mit der Eröffnung in einem Jahr die Anlaufstelle für Chormusik in Deutschland und ein echtes Kultur-Highlight im Herzen von Berlin. Inhaltlich sind wir dort so breit aufgestellt, dass sich viele spannende Schnittstellen zur musikalischen Früherziehung, zu Auftritten im Heimathafen und vielen Partnern wichtiger Kulturinstitutionen in Berlin ergeben werden. Mit dem Deutschen Chorzentrum geben wir dem Singen ein Zuhause in der Hauptstadt. Das wird unsere Möglichkeiten bei der Kommunikation mit politischen Entscheidungsträgern wesentlich verbessern. Vor allem wird es – unweit vom Heimathafen – unseren Mitgliedern eine Heimat bieten.
nmz: Wie hat sich die Aufgabenverteilung zwischen Präsidium und Geschäftsstelle verändert? Moritz Puschke hatte ja die Geschäftsführung verlassen und ist nunmehr als Künstlerischer Leiter von chor.com und Chor@Berlin für den DCV tätig.
Wulff: Wir haben eine gute Lösung gefunden. Wie großartig chor@Berlin und chor.com in Hannover gelaufen sind, zeigt ja, dass es der richtige Schritt war, Moritz Puschke volle Rückendeckung für diese Aufgaben zu geben. Das macht er wirklich toll. Daneben konzentriert sich die Geschäftsstelle auf das, was ihr Kerngeschäft ist: Ehrenamt ermöglichen durch engen Kontakt und Service gegenüber den Mitgliedern einerseits und Lobbying und Unterstützung im politischen Raum andererseits.
nmz: Welche inhaltlichen Weichenstellungen hat die Mitgliederversammlung Ende Oktober gebracht? Erstmals haben ja die vor einem Jahr installierten Kommissionen zum Thema „Selbstverständnis“ und „Nachwuchsarbeit“ berichtet…
Wulff: Wir konnten als Präsidium zeigen, dass wir durch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit untereinander und mit den Mitgliedern eine Basis dafür geschaffen haben, den Verband zukunftsfähig zu machen. Die Kommissionen haben einen sehr engagierten Job gemacht, und ich bin allen sehr dankbar, die sich da engagiert haben. Gerade Nachwuchs spielt eine große Rolle, und die Mitgliederversammlung hat eine große Unterstützung aller für die herausragende Arbeit der Deutschen Chorjugend gezeigt – die Kommission hat da gute Ideen eingebracht. Das „Selbstverständnis“ ist ja in Teilen das, was ich gerade beschrieben habe: Wir müssen schlüssig zeigen, was wir als Verband für unsere Mitglieder leisten. Da hat die Kommission wichtige Ansätze erarbeitet.
nmz: Wie kann das (Amateur-) Chorsingen mithalten im Wettbewerb um die Zeitkontingente der Menschen?
Wulff: Ich glaube, das Chorsingen muss sich da nicht verstecken – im Gegenteil: Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, ein bisschen mehr „Brust raus“ im Kontakt mit öffentlichen Stellen ist angebracht. Singen bewegt Menschen. Und dass Singen in Gemeinschaft attraktiv und erfolgreich ist, sehen wir ja an Formaten wie „Sing dela Sing“. Da müssen wir anknüpfen und auch manche mentale Hürde in unseren eigenen Reihen abbauen. Wenn wir das schaffen, ist mir um die Zukunft des Chorsingens nicht bange.
nmz: Seit Ende März ist der DCV Mitglied im neu gegründeten „Bundesmusikverband Chor & Orchester“ (BMCO). Was war der Grund, somit den Austritt aus der Bundesvereinigung Deutscher Chorverbände (damals noch ADC) indirekt wieder rückgängig zu machen?
Wulff: Der BMCO wird ein wichtiger Player auf Bundesebene, weil er die gesamte Kraft der Amateurmusik gegenüber dem politischen Raum in die Waagschale wirft. Der Beitritt folgt also einem notwendigen Ansatz zur Professionalisierung von Lobbyarbeit für das Chorsingen. Da im Konzert der Vielen mitzuwirken mit starker eigener Partitur, wird am Ende allen helfen. Bisher geht der BMCO mit seinem Präsidenten Benjamin Strasser sehr überzeugend vor. Und die Orchesterseite bringt uns manch gute zusätzliche Idee.
nmz: Trägt dieser neue Zusammenschluss schon erste Früchte in Sachen Lobby-Schlagkraft für das Laienmusizieren?
Wulff: Ja durchaus, wie Sie daran sehen können, dass der BMCO bereits erste vom BKM erhaltene Mittel weitergeben kann. Aber der Verband steht erst am Anfang. Insofern ist die Hoffnung, dass da noch viel mehr kommen wird. Die Laienmusik ist dann stark, wenn sie geschlossen auftritt.
nmz: Die Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrates hat Ende Oktober den 5. Berliner Appell verabschiedet: „Musik machen – Haltung zeigen. Für eine demokratische, weltoffene Gesellschaft und für Kulturelle Vielfalt“. Welche Rolle kann Chormusik bei der Erreichung dieser Ziele spielen und was kann der DCV dafür tun?
Wulff: Ich habe das eingangs bereits angesprochen: Chöre bewegen Menschen, geben ihnen unabhängig von Hautfarbe, Religion, sexueller Orientierung oder Herkunft eine Heimat. Damit sind sie Nukleus und Motor für unsere Bunte Republik Deutschland. In Chören wird Vielfalt ein- und ausgeübt, werden Vorurteile abgebaut. Alle können teilhaben, jede Stimme zählt. Für liberale Demokratie, Weltoffenheit und kulturelle Vielfalt können Sie fast nicht mehr machen, als in einen Chor zu gehen…