Die Sächsische Staatsoper Dresden, nach ihrem ursprünglichen Baumeister als Semperoper bezeichnet, und das Europäische Zentrum der Künste Hellerau, beheimatet in der denkwürdigen Architektur Heinrich Tessenows, sind nicht nur durch das Elbtal getrennt. Beide Stätten der Kunst sind exakt achteinhalb Kilometer voneinander entfernt. Zugleich liegen Generationen, Jahrhunderte gar, zwischen dem halbwegs solide finanzierten Staatstheater und dem lau budgetierten Wagnis vor den Toren der Stadt. Kaum ein Touristenbus verirrt sich ins Experimentierfeld. Sie alle verrußen nur zu gern den Theaterplatz.
Busse sind in Dresden ebenso allgegenwärtig wie die Toren der Stadt. Erstere entschleunigen den Verkehr und prägen das Stadtbild, dessentwegen sie Dresden angesteuert haben. Letztere blockieren ganz anders, indem sie hier nichts entscheiden, da reinreden und überall Bedenken vor sich hertragen wie schwere Bürden. Abgepolstert freilich sind sie noch mehr als die besten der Busse. Nur meist nicht so helle. Sonst wüssten sie die vorhandenen Schätze der Stadt vielleicht in ihrer Gesamtheit zu fördern.
Dass Dresden seit Augusteischen Zeiten einen hervorragenden Ruf als Kunststätte und Stadt der Künste besitzt, steht außer Frage. Freilich ist es ein sächsischer August gewesen, der sich gern mit Italiens Hervorbringungen zu schmücken verstand. Touristenverführer verkaufen heute gern als Barockpracht, was rings um die tatsächlich barocke Kirche Gaetano Chiaveris entstand: Brühlsche Terrasse und Sempers Opernbau sind überwiegend Bauten des 18. und 19. Jahrhunderts, nach Kriegsschäden im 20. wieder aufgebaut.
Zu dessen Beginn aber entfaltete sich in der Gartenstadt Hellerau etwas wirklich Neues, Beispielgebendes, das Strahlkraft weit über die sächsischen Grenzen hinaus hatte. Tessenows Festspielhaus wurde Deutschlands Zentrum der Reformbewegung, Emile Jaques-Dalcroze, Adolphe Appia und Mary Wigman sind die wohl berühmtesten Aushängeschilder des Neuen gewesen. Die deutschen Nazis hatten bekanntermaßen eigene Kunstvorstellungen, mithin wurde der Aufbruch bald schon wieder unter Stiefel und Ungeist erstickt. Auch nach 1945 dümpelte das Gelände als Militärkaserne vor sich hin, erst seit dem Abzug der Sowjets kam wieder Kultur zu ihrem Recht. Inzwischen sind Gartenstadt, Gebäudeensemble „Deutsche Werkstätten Hellerau“ sowie in vielversprechenden Ansätzen auch das Festspielhaus wiederhergestellt. Der alliierte Bombenhagel vom Februar 1945 ging an Hellerau glücklicherweise vorüber.
Udo Zimmermanns Visionen in den Amtsstuben demontiert
Für so ein Projekt braucht es Macher, Menschen mit Visionen. Schwer zu finden in einer Stadt, die einzig ihre Rückbesinnung pflegt. Mit Udo Zimmermann, immerhin einem gebürtigen Dresdner, schien rasch der rechte Mann gefunden. Der einstige Kruzianer und früh etablierte Komponist, der später auch als Dirigent und Intendant von sich reden machte, war pfiffig genug, bereits zu DDR-Zeiten ausgerechnet im „Tal der Ahnungslosen“ ein Zentrum der zeitgenössischen Musik zu etablieren, das trotz deutsch-deutscher Mauer europäischen Geist atmete und lebte. In den 1990er-Jahren zog das Zentrum auf die Baustelle Hellerau. Zimmermann war zeitgleich mit der Oper Leipzig und der Deutschen Oper Berlin befasst – und wie kaum ein Zweiter in der Lage, quasi als Stehaufmännchen just nach seinem jähen Hinauswurf aus Berlin durch einen windelweich gewordenen Senat für Dresden respektive Hellerau den „Grünen Hügel der Moderne“ auszurufen. Und die eigene Person, ganz selbstverständlich, als einzig denkbaren Bezwinger sowohl des Hügels als auch der Moderne. An etwaige Untiefen mochte er dabei noch gar nicht gedacht haben. Sonst hätte er Hellerau kaum so vollmundig als das „Europäische Zentrum der Künste“ propagiert.
Sie sollten sich als Querelen erweisen, die das Projekt fast zum Stillstand verdonnerten. Die Untiefen zunächst der Finanzen, Zwistigkeiten zwischen Denkmalpflege und Bauaufsicht, zu wenig Tiefgang und Weitsicht auch im Kulturamt, im Rathaus sowieso. Dennoch gelang es, die Forsythe Company ans Haus zu binden (und sie damit zu retten, einer Quotenregelung zwischen den Bundesländern Hessen und Sachsen sei Dank), dieser Schachzug hatte einige überregionale Feuilletonaufmerksamkeit und zeitweise auch guten Kartenverkauf zur Folge. Eine den Zuschuss von vier Millionen Euro pro Jahr rechtfertigende Auslastung gelang damit noch nicht. Zumal baubedingt weitere Schließung ansteht, langfristige Planung überhaupt nicht möglich scheint. Was als Werkstatt, Labor gar, deklariert worden ist, bleibt zumeist ohne Leben, schlicht, weil der Etat zum Beleben fehlt. Ein gewisses Maß an Bereitschaft zum Risiko wäre vonnöten gewesen, um dauerhaft Publikum heranzuführen.
Einer wie Zimmermann, im kommenden Herbst wird er 65 Jahre alt, ist derart Wagnis stets eingegangen, seine Visionen leuchteten noch stets heller als all die Amtsstuben im Hinterland. Doch dort ist das Sagen – und so wurde entschieden, zum 1. Januar 2009 eine neue Leitung für das Festspielhaus zu suchen. Das bisherige Team wurde aufgerieben, hat sich vielleicht auch zu sehr nach Bestandsschutz gesehnt. Was nun aber kommt, heißt nicht mehr Intendant, sondern Künstlerischer Leiter. Wahrscheinlich ist es kein Wunder, dass für einen derart an Demontage leidenden Betrieb keine „Lichtgestalt“ unter den Bewerbern auszumachen gewesen sein soll.
Dieter Jaenicke will die Kunstsparten zusammenführen
Das hinderte die Lokalpresse nicht, von „Deutschlands interessantester Kultur-Personalie“ zu schwafeln. Wäre dem so, hätten gewiss große Namen Schlange gestanden. Dennoch wurde um den Ausgang der Verhandlungen lange gebangt. Ende Februar sickerte durch, was Dresdens Interimsbürgermeister in einer Pressekonferenz bekanntgeben wollte, die er dann absagen konnte: Dieter Jaenicke soll künftig das Festspielhaus leiten. Dieter Jaenicke? In Dresden und Hellerau gilt er als ein Unbekannter. In Hamburg und Hannover dürfte das anders sein, dort hat der Soziologe, Erziehungs-, Religions- und Theaterwissenschaftler nachhaltig als Gründer gewirkt. Zunächst rief er an der Leine ein internationales Tanzfest ins Leben, 1985 dann das Festival des Sommertheaters in der Hansestadt, das später bei der Kampnagel-Kulturfabrik angedockt wurde. Andere Stationen des 58-Jährigen waren das dänische Aarhus-Festival sowie das Weltkulturforum in Sao Paolo und Rio de Janeiro. Das klingt nach internationalem Netzwerk und lässt hoffen.
Niemand kann Erfolg garantieren, ohnehin ist der Begriff von Lichtgestalten recht unterschiedlich definiert. Vielleicht würde der Mut zur Ehrlichkeit helfen: Will man in der 800-jährigen Elbstadt auch mal nach vorn blicken, oder bleibt man sich mit (pseudo-)barockem Plüsch selbst genug? Bei letzterer Option würde alles so bleiben, wie es nun einmal ist, in Dresden. Die Alternative wäre ein Bekenntnis zum Aufbruch, auch etwas für Minderheiten zu initiieren, ein wenig längeren Atem zu beweisen, der über kommunalpolitische Legislaturperioden hinausgeht. Ein solches Bekenntnis kostet, kostet nicht nur Geld, sondern auch geistige Anstrengung. Es würde die Vision vom eigenständigen Kunstort, an dem miteinander gelebt, probiert, diskutiert und aufgeführt wird, dem heute beileibe noch nicht in ausreichender Zahl vorhandenen Publikum nahezubringen helfen. Erst dann fahren Reisebusse auch nach Hellerau. Jaenicke soll dort, wie es heißt, ein engeres Miteinander von Musik, Tanz und Theater vorantreiben. Bereits vor fünf Jahren hat er an einem Betreiberkonzept für Hellerau mitgewirkt, der Ort ist ihm also nicht fremd.
Moderne kann nicht in Bemessungsgrenzen festgeschrieben werden, ihr muss ein Feld eben dieses Ausprobierens zugebilligt sein. Wer das nicht gewährt, sollte so ehrlich sein und sich zurückziehen auf probate Kassenschlager, denen möglichst noch in schnöder Regelmäßigkeit der Zuschuss gekürzt werden kann. Dann lebe das barocke Dresden, und sei es auch nur erklärte Fassade! Doch vielleicht wird achteinhalb Kilometer jenseits von Semper-oper & Co. demnächst ja doch ein Öffnen gewagt? Es wäre zu wünschen.