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Henning Scherf. Foto: DCV
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Große Historie, lebendige und reiche Gegenwart

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Deutsches Chorfest in Frankfurt: Henning Scherf, Präsident des Deutschen Chorverbandes, im nmz-Gespräch
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Seit sieben Jahren ist der frühere Bremer Regierungschef Henning Scherf Präsident des Deutschen Chorverbands (DCV), mit 700.000 aktiven Sängerinnen und Sängern in 20.000 Chören Europas größte Vereinigung singender Menschen. Zwei Wochen vor dem Start des Deutschen Chorfestes in Frankfurt vom 7. bis zum 10. Juni sprach die neue musikzeitung mit ihm über das bevorstehende Großevent sowie die Feiern zum 150. Jubiläum der Deutschen Sängerbünde im Herbst.

neue musikzeitung: Austragungsstadt des Deutschen Chorfestes ist 2012 Frankfurt – das bedeutet 500 Chöre, bis zu 20.000 Sänger, 600 Auftritte in 4 Tagen. Warum braucht es solche Großveranstaltungen und was macht deren Faszination aus?

Henning Scherf: Wir feiern dieses Jahr das 150-jährige Jubiläum des Deutschen Sängerbundes. Diese Sängerbewegung hat immer von solchen großen Treffen gelebt. Das hat diese Sängerbewegung so stark gemacht: Sie vermittelten sich gegenseitig die Erfahrung, wir sind nicht irgendwo in einer Nische, sondern in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wir können große Foren füllen, die große und breite Öffentlichkeit erreichen, haben die jeweiligen Obrigkeitspersonen auf unserer Seite, den Bundespräsidenten, die Oberbürgermeisterin, den Finanzminister, den Kulturbeauftragten et cetera. Noch ein Aspekt von Großveranstaltungen besteht darin, dass man zum einen selbst auftritt, zum anderen aber auch anderen zuhört und voneinander lernen kann. 

nmz: Viele Städte haben sich für das Deutsche Chorfest beworben, weshalb hat Frankfurt den Zuschlag erhalten?

Scherf: Die Stadtverordnetenversammlung war sehr großzügig. Sie hat uns vor Jahren einen Zuschuss in Höhe von 850.000 Euro zugesagt – das hat uns bisher keine andere Stadt in Deutschland angeboten. Die Oberbürgermeisterin, Petra Roth, hat sich mit großem Elan und Engagement für diese Sache stark gemacht. Da sie nun abtritt, ist dies ihre letzte große Veranstaltung. Wir begleiten die Oberbürgermeisterin in einen neuen Abschnitt. Dann kam hinzu, dass hier die Hochschule mit meinem Freund Thomas Rietschel als Präsidenten von Anfang an wollte, dass das Ganze in Frankfurt stattfindet. Mit dem Projekt Primacanta von Crespo Foundation und Musikhochschule versuchen sie, jede Grundschule dazu zu bewegen, einen eigenen Chor mit einer ambitionierten Chorleitung zu haben. Das haben sie geschafft: Sie wollen den Eltern, den Lehren und den Schülern zeigen, dass sie mittendrin sind in einer großen Sängerbewegung. Das kommt alles zusammen und das macht die Sache wirklich rund.

nmz: 150 Jahre Chorverband beziehungsweise Sängerbünde – ein Riesenjubiläum. Was ist für 2012 geplant?

Scherf: Am Wochenende vom 22. bis 23. September veranstalten wir in Coburg – wo der Sängerbund gegründet wurde – ein mehrtägiges Treffen, wo wir uns austauschen. Das Jubiläumsjahr 2012 haben wir zunächst mit dem Vokalfest Chor@Berlin Mitte Februar begonnen, nun folgt diese knappe Woche in Frankfurt und im Herbst sehen wir uns alle in Coburg zum 150-jährigen Jubiläum.

nmz: Die Geschichte der Sängerbünde ist auch wechselvolle deutsche Geschichte. Wie geht man damit um?

Scherf: Professor Friedhelm Brusniak von der Universität Würzburg, unser wissenschaftlicher Leiter des Sängermuseums in Feuchtwangen, hat vor circa 2 Jahren in unserem Auftrag 15 Wissenschaftler aus ganz Europa gewonnen, von denen nun jeder für sich einen Abschnitt dieser 150-jährigen Geschichte bearbeitet. Seine umfangreiche wissenschaftliche Arbeit zum deutschen Chorwesen erscheint zum Jubiläum und in Frankfurt beginnen wir bereits jetzt mit einer Ausstellung, bei der wir zeigen möchten, was in 150 Jahren alles passiert ist, vor allem auch politisch. Sänger waren nicht unpolitisch, das Ganze hatte einen bündischen Charakter, sie ließen sich von den Fürsten, deren Polizei Angst und Schrecken verbreitete, nicht in ihre Häuser zurücktreiben, sondern trauten sich zurück auf die öffentlichen Plätze. Das wurde hervorragend aufgearbeitet, auch musikalisch: Gemeinsam mit dem Bundespräsidenten wird es eine Veranstaltung geben, wo der große historische Bogen von der Gründung bis in die Gegenwart hinein musikalisch nachvollzogen wird. André Schmidt hat dazu wunderbare Musikbeispiele herausgesucht. Beim Chorfest schauen wir nicht nur nostalgisch zurück, sondern wir versuchen praktisch aufzuzeigen, wie es im Bereich Chorgesang weitergeht. Zu unserer Zukunft gehören deshalb ebenso die venezolanischen Sänger aus José Antonio Abreus El Sistema wie die osteuropäischen Sänger oder die Wise Guys. 

nmz: Es werden nicht nur Musiker anwesend sein, auch hochrangige Politiker werden erwartet, unter anderem Bundespräsident Joachim Gauck…

Scherf: Er hat fest zugesagt. Er wird kommen und beim Abschlusskonzert mitsingen. Dann hat uns der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble eine Sonderbriefmarke geschenkt, die zum Jubiläum erscheinen wird. Ich weiß, dass er gerne singt und er hat darauf bestanden, mit auf die Bühne zu kommen und auch auf dem Römerberg zusammen mit den Primacanta-Kindern zu singen. Darüber freue ich mich sehr.

nmz: An der Spitze des Chorverbandes steht ebenfalls ein praxiserprobter, ehemals hochrangiger Politiker beziehungsweise Regierungschef, nämlich Sie selbst. Was bedeutet das Singen für sie persönlich?

Scherf: Ich bin in eine Familie mit sechs Kindern hineingeboren, wir waren in der Bekennenden Kirche und daher haben wir von Anfang an gesungen. Ich kam als Sieben- oder Achtjähriger in den Knabenchor Unserer Lieben Frauen in Bremen. Ich habe sehr früh, noch vor meinen Stimmbruch, Palestrina, Monteverdi, Gabrieli oder Bach gesungen. Nach dem Stimmbruch hatte ich zunächst etwas Mühe, dann war ich im Schulchor, habe dort auch Solostimmen gesungen, Schulopern aufgeführt. Später als Student habe ich im evangelischen Studentenwerk gesungen, dort gehörte es dazu, mitzusingen und Gottesdienste mitzugestalten. Richtig mit Ehrgeiz bin ich seit sieben Jahren bei großen Aufführungen dabei, eben seit ich nicht mehr Bürgermeister bin. Wir haben einen Bremer Rathschor gegründet, der zu einem wesentlichen Teil aus dem früheren Domchor besteht. Mit diesem Chor sind wir in der großen Literatur zu Hause, die Deutsche Kammerphilharmonie in Bremen musiziert mit uns, worüber wir sehr glücklich sind. Wir sind der einzige Laienchor, mit dem dieses Orchester musiziert. Ich habe nicht nur eine Verbandsrolle übernommen, sondern erlebe wieder den Reichtum des aktiven Chorsingens. 

nmz: Sie haben ihr Amt als Regierender Bürgermeister 2005 mit 67 Jahren abgegeben und sind in die kulturpolitische Lobbyarbeit bei einem Verband eingestiegen. Eine saubere Trennung, die viele ihrer Kollegen nicht vollziehen. Was raten Sie jüngeren Politikern im Berufsleben, die zeitgleich in Verbänden aktiv sind?

Scherf: Ich habe früher immer von Doppelstrategie geredet. Ich habe allen Politikern geraten, sich nicht mit Haut und Haaren auf ihre politische Rolle einzulassen. Diese ist am Schluss wie ein Käseglockenbetrieb, man trifft immer dieselben Leute. Ich habe immer geraten: Haltet euch ein zweites Standbein in der Zivilgesellschaft, als normale Menschen gewissermaßen. Dafür ist das weite Feld der Kulturpolitik wunderbar geeignet. 

nmz: Stichwort Lobbyarbeit: Sie haben einmal in einem Interview gesagt, Politiker wollen sich dort aufhalten, wo etwas Lebendiges geschieht. Und weiter: Vorankommen in der Verbandsarbeit geschehe mehr durch überzeugende Praxis, als durch das Verfassen von Resolutionen… 

Scherf: Ich finde dieses Schreiben von Mahnbriefen, Resolutionen und offenen Briefen anstrengend. Das bewirkt in der Regel überhaupt nichts. Wir, die wir in den Verbänden arbeiten, sind klug beraten, wenn wir uns Angebote und Anlässe ausdenken, bei denen tatsächlich musiziert wird oder Kunst und Kultur entstehen. Was kann man erfinden, was in unserer Gesellschaft wirklich strahlt? Wo merken die Journalisten, dass etwas im Gange ist? Wo bemerken die großen Medien, dass sie teilnehmen müssen? Bietet man dies den Politikern an, so verstehen diese, dass es sich um etwas Kostbares handelt, das nicht kaputtgehen darf – ein Stück lebendige Zivilgesellschaft, von der wir alle leben. Hier gewinnen wir unsere Motivation und Orientierung, hier üben wir unsere Sprache und Kommunikation ein und bauen Vertrauen auf. Seit ich im Chorverband an der Spitze stehe, habe ich so viele schöne Erfahrungen gemacht. Gerade war ich in Leipzig beim 800-jährigen Jubiläum der Thomaner: es ist zauberhaft, wie diese Post-DDR-Gesellschaft, die mit Kirche so gut wie nichts mehr zu tun hat, über die große Bachmusik, über die große Kultur der Thomaner plötzlich wieder diesen großen Kulturschatz entdeckt. Ich habe beobachtet, wie die Kirche voller Schulkinder war, die so etwas noch nie gesehen hatten. Sie konnten aber einen Bachchoral mehrstimmig singen und ich habe gemerkt, dass ihnen ein Licht aufgegangen war. Dann fängt eine solche Gesellschaft an zu strahlen, der OB war immer mittendrin und hatte begriffen, dass es sich hierbei um etwas Wichtiges handelte und man eine Stadt auf diese Weise positiv stärken und motivieren kann. Bach-Stadt zu sein ist weltweit ein Alleinstellungsmerkmal. Das muss man dieser Gesellschaft, die gerne jammert und beklagt, früher sei alles besser gewesen, spannend und attraktiv präsentieren. Das gelingt, und so gelingt es auch in Frankfurt und in Bremen. 

nmz: Was kann ein Fachverband aus dem Laienbereich im Profibereich beisteuern?

Scherf: Wir wollen kein Gegeneinander von Profis und Laien. Wir leben von den Profis. Unsere besten Chorleiter sind Profis, ebenso unsere besten Chöre. Diese wiederum haben ein großes Interesse an dieser Breite, die wir anbieten. Würde dies von der Politik wahrgenommen, wäre ich zuversichtlich. An diese Konstellation könnten sich Opernhäuser dranhängen, ebenso Musik- und Konzertveranstalter oder Verlage. Alle, die Publikum erreichen wollen, müssen merken, dass man ohne Konkurrenzängste gemeinsam wachsen kann. Eine solche Erfahrung habe ich bei der chor.com gemacht. Ich spüre, dass die Profiszene gut findet, dass sich ein Laienverband wie der Deutsche Chorverband neu aufstellt. Wir bieten Ausbildungen und Zertifikate an, gemeinsam mit den Bundesakademien, die Hochschulen beteiligen sich, endlich gibt es wieder Hochschullehrerstellen für Chorleitung. Profis profitieren durchaus von einem Laienverband.

nmz: Die Fülle des Angebots auf dem Chorfest scheint überschaubar...

Scherf: Es läuft vier Tage, und man muss sich durchaus etwas orientieren. Es beginnt mit einer Eröffnungsveranstaltung in der Paulskirche, dann geht es gleich auf den Römerberg. Mehrere hundert Grundschulkinder werden dazu erwartet, ferner treten die Wise Guys auf. Am zweiten und dritten Tag gibt es an über 60 Plätzen in der ganzen Stadt öffentliches Singen, nicht nur Wettbewerbe. Am zweiten Tag gibt es die Nacht der Chöre, die erst nach Mitternacht endet. Am dritten Tag werden die Preisträger aus dem Chorwettbewerb auf dem Römerberg vorgestellt, danach wird der Bundespräsident zu Gast sein. Wir wollen vermitteln, dass es schön ist, sich zwischen Sängerinnen und Sängern zu bewegen, alte Freunde zu treffen und neue zu finden. Ich bin zuversichtlich, es wird ein großes und schönes Fest.

Das Gespräch führte Andreas Kolb

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