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Das Interview mit Peter Vierneisel und Christina Hollmann hier auf nmz.de in voller Länge. Foto: Bundesakademie Trossingen
Das Interview mit Peter Vierneisel und Christina Hollmann hier auf nmz.de in voller Länge. Foto: Bundesakademie Trossingen
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Juwel der gesellschaftlichen Bildung

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Ein Gespräch anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Bundesakademie Trossingen
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Unter dem Motto „Mit Musik zusammen wachsen“ feierte die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen Ende Juni ihr 50-jähriges Bestehen. Andreas Kolb sprach mit dem Direktor der Bundesakademie, Prof. Peter Vierneisel, sowie mit der stellvertretenden Direktorin Christina Hollmann, über die Intentionen der bundesweit einzigartigen Institution.

neue musikzeitung: Prof. Peter Vierneisel, welche Ziele hat sich die Akademie Trossingen für die nächsten 50 Jahre gesetzt?

Peter Vierneisel: Mit ihrem Auftrag einer zukunftsorientierten gesellschaftlichen Bildung über Musik – und dies für gesamt Deutschland – trägt die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen eine hohe Verantwortung für unser Land. Der ist sie sich bewusst und wird ihr auch gerecht. Und das seit 50 Jahren. Mit ihrer Wirkungsgrundlage, dem Kinder- und Jugendplan des Bundes, ist die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen ein Juwel der gesellschaftlichen Bildung. Denn in der Zielstellung der Bundesakademie geht es um Befähigung unserer zukünftigen Generationen für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt und die darin enthaltene eigenverantwortliche und selbstbestimmte Beteiligung jedes Einzelnen. Dieser Wert ist bis heute bedeutsam, bildet aber in einer zukünftig hochdynamisch komplexen Welt eine unbedingt notwendige, tragende Säule einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Die musikalische Bildungsmethodik der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen kann hierzu bundesweit einen maßgeblichen Beitrag leisten. Diesen Wert gemeinsam mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unseres Hauses, unseren Mitgliedsverbänden und deren Vertretern in unseren Lenkungsgremien, den Gastdozentinnen und Gastdozenten sowie mit allen Partnern aus Hochschule und Politik in die Zukunft zu tragen, ist eine große Aufgabe und gleichzeitig enorme Verantwortung. Es macht mich sehr glücklich mit meiner Expertise hierzu meinen Teil als Direktor dieser besonderen Institution leisten zu dürfen.

nmz: Christina Hollmann, Sie haben von 2008 bis heute an der Akademie gewirkt: Was sind aus Ihrer Sicht die bedeutendsten Veränderungen?

Christina Hollmann: In meinen nunmehr 14 Akademiejahren hat sich das Haus im Inneren und Äußeren enorm gewandelt. Und hier stehen die augenscheinlichen Veränderungen durch die im Jahr 2015 abgeschlossenen umfassenden Umbauten und Erweiterungen unseres Hauses zugleich auch für ein sich über die Jahre weiterentwickelndes Akademieportfolio. Dieses Wachsen im Hinblick auf die Quantität unserer Weiterbildungsangebote ist jedoch bei weitem keinem sportlichen Ehrgeiz geschuldet, sondern einzig unserem Auftrag, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in musikbezogenen Kontexten für ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu qualifizieren - angesichts der vielfältigen Veränderungen ihrer Arbeits- und Tätigkeitsfelder bedeutet dies für die Bundesakademie ständige Weiterentwicklung und Erweiterung ihres Spektrums. Hier denke ich – um nur einiges kurz anzureißen - an Themenfelder, wie die inklusive und partizipative Arbeit in heterogen zusammengesetzten Gruppen und Klassen, an Herausforderungen durch Veränderungen der Bildungslandschaft, wie beispielsweise die Ganztagsschule, aber beispielsweise auch an die über das bisherige Spektrum hinausgehenden Aufgabenfelder für Kolleginnen und Kollegen im kirchenmusikalischen Bereich sowie auch die sich durch strukturelle Veränderungen im Kultur- und Bildungsbereich ergebende Notwendigkeit, sich ganz neue bzw. zusätzliche Arbeitsfelder zu erschließen.

Verändert hat sich in meiner Wahrnehmung zudem in weiten Teilen auch die Sicht unserer Teilnehmenden auf das Thema Weiterbildung. Unter dem Label des Lebenslangen Lernens werden die Chancen eigener beruflicher wie persönlicher Weiterentwicklung heute in sehr positiver Weise in den Blick genommen. Dies auch vor dem Hintergrund, dass die eigene musikalische Biografie selten geradlinig verläuft und die Kolleginnen und Kollegen erfahren, dass der einmal erreichte (Studien-)Abschluss nur schwerlich durch ein sich permanent wandelndes Berufsleben mit immer neuen Herausforderungen leiten kann.

nmz: Sie beide sind als Direktor und Stellvertretende Direktorin an der Bundesakademie tätig: Wie teilen Sie sich Ihre Aufgabengebiete bzw. Pflichten?

Vierneisel: Ganz im Sinne der Bildungshaltung der Bundesakademie Trossingen und unseres damit verbundenen methodischen Ansatzes der Lernbegegnung, arbeiten auch Frau Hollmann und ich ergänzend zusammen. Das heißt, dass wir keine getrennten, festgelegten Felder bearbeiten, sondern in ständigem Austausch und mit unseren unterschiedlichen Perspektiven zur gleichen Aufgabenstellung versuchen, bestmögliche Lösungen zu finden. Dieser Ansatz ist ein Credo unserer Arbeitsstruktur im gesamten Haus.

nmz: Im Juni wurde die Akademie 50 Jahre alt. Seit 1972 sieht sie es als ihre Aufgabe, sich der Weiterbildung in der musikalischen Jugendbildung zu widmen. Wie begehen Sie das Jubiläumsjahr?

Hollmann: Es erfüllt uns mit großer Freude, dass wir – im Sinne des Kinder- und Jugendplans des Bundes – seit fünf Jahrzehnten an dem großen Ziel, allen Kindern und Jugendlichen kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, mitwirken dürfen. Im Zentrum unserer Weiterbildungsangebote für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus den vielfältigsten musikbezogenen Kontexten steht immer unsere Intention, Kinder und Jugendliche über die Liebe zur Musik und die Lust am Muszieren zu einer Begegnung mit sich selbst und anderen zu führen. Unter der Überschrift „Mit Musik zusammen wachsen“ – unserem Jubiläumsmotto, das unser Wirken und unser Selbstverständnis abbildet – haben wir am 24. Juni einen großen und facettenreichen Festtag gestaltet. Ein Tag, der als Erlebnistag das bundesweite Bundesakademie-Netz aus Politik, Verbänden, Kultur und Bildung aufgespannt hat. Ein Tag, der die Jugend als Zentrum der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellte. Hör- und sichtbar durch das in der Mitte unseres ovalen Konzertsaales agierende Bundesjazzorchester, umschlossen von den kreisförmig platzierten Festgästen und einem klanglichen Netz, das Gastdozentinnen und Gastdozenten der Bundesakademie von verschiedenen Positionen im Konzertsaal über alle Köpfe hinweg webten. Ein hörbares und erlebbares WIR!

Und in dieses Wir, so unsere Idee dieses besonderen Tages, wollten wir alle unsere Zielgruppen, unsere Ministerien, unsere Mitgliedsverbände, die zahlreichen Unterstützer und Begleiter der Bundesakademie mit hineinnehmen. Dies in der bewusst gewählten Zweideutigkeit unseres Mottos: zusammen wachsen – zusammenwachsen.

Und in diesem Sinne schafft die Bundesakademie Trossingen als Ort der Vernetzung und Inspiration im Verlauf ihres Jubiläumsjahres vielfältige Gelegenheiten zu Begegnungen und Austausch. 50 Jahre Bundesakademie verstehen wir als Motivation und Auftrag, in besonderer Weise vernetzend und verbindend zu wirken. Daher laden wir gezielt immer wieder Mitdenkende aus den verschiedensten Kontexten zu uns ein, um gemeinsam daran weiter zu bauen, dass Kindern und Jugendlichen Wege eröffnet werden, sich mit und über Musik die Welt zu erschließen.

Willkommenskultur

nmz: Das Motto „Mit Musik zusammen wachsen“ steht auch einem Aufruf voran, in dem die Akademie Musikangebote veröffentlicht, die sich Geflüchteten öffnen. Wie ist die erste Resonanz?

Vierneisel: Das Motto „Mit Musik zusammen wachsen“ steht unserem Jubiläumsjahr aus dem Grund voran, da es die grundsätzliche Haltung und Aufgabenstellung der Bundesakademie Trossingen wunderbar widerspiegelt. Die „Beidhändigkeit“ unseres Bildungsansatzes, nämlich in der Begegnung mit, durch und an anderen selbst zu wachsen und gleichzeitig den Wert des anderen für die Kraft des gemeinsamen Miteinanders zu entdecken, findet sich, wie von Frau Hollmann eben erläutert, in der Schreibweise dieses Slogans wieder. Mit diesem Bildungsverständnis und der damit verknüpften Expertise der Bundesakademie Trossingen, eröffnen sich große Möglichkeiten einer für alle Beteiligten und Teilhabenden gewinnbringenden Inklusion und Integration. Damit sind auch der Wunsch und die Annahme einer Zuwendung unseres Hauses an alle ukrainischen und anderen Geflüchteten logische und richtige Folge. So konnten wir unter anderem mit unserem initiierten Netzwerk „Flüchtlingshilfe in Musikverein, Orchester und Chor: Geflüchtete sind bei uns willkommen!“ gemeinsam mit vielen Ensembles, Orchestern und Chören in ganz Deutschland ein starkes Zeichen setzen. Nämlich, dass Deutschland eine offenherzige Willkommensgesellschaft ist, diese Haltung über Musik zeigt, sie aber auch gleichzeitig über Musik bildet. Dies erfüllt uns als Institution des Bundes mit genau diesem Bildungsauftrag mit viel Stolz, Freude und Ansporn in unserer Arbeit für die Zukunft.

nmz: Corona und mögliche Folgen für die Arbeit der Bundesakademie?

Vierneisel: Mit den letzten drei Jahren blickt die Bundesakademie Trossingen aufgrund der Corona-Pandemie auf höchst bewegte, in diesem Kontext aber auch bedeutsame Wirkungsjahre zurück. Aufgrund der Pandemiemaßnahmen, die viele Präsenzveranstaltungen nicht zuließen, entwickelte die Bundesakademie zahlreiche Neuformate der Online-Schulung. Themen, wie die Nutzung moderner Medien und Programme im Musikunterricht, zeitgemäße Unterrichtsgestaltung, musikpädagogische Möglichkeiten sowie Fragen der Verwaltung und Führung von Musikvereinen haben den Bedarf unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer getroffen. So war die Nachfrage nach diesen Onlineseminaren in dieser Zeit enorm. Das darf aber nicht über die großen Herausforderungen hinwegtäuschen, mit denen sich die Bundesakademie Trossingen – verursacht durch die Folgen der Corona-Pandemie – konfrontiert sah. Der Mehraufwand durch das kurzfristige Krisenmanagement sowie durch die Entwicklung komplett neuer Onlineformate war sehr groß, bewies aber auch gleichzeitig die Resilienz der Bundesakademie Trossingen. Heute, in Zeiten wieder möglicher Präsenz vor Ort, zeigt sich Gott sei Dank bei all unseren Teilnehmerinnen und Teilnehmern ganz klar, dass der Wunsch nach und die Freude an realer Begegnung absolute Priorität hat.

nmz: Können Sie uns auch einen Rückblick auf Erreichtes geben?

Hollmann: Der in einem Jubiläumsjahr naheliegende Blick zurück, auf fünf bewegte Jahrzehnte, verführt uns keinesfalls zu selbstgefälligem Schulterklopfen. Dafür leben wir viel zu sehr im Hier und Jetzt bzw. blicken wir nach vorne und in ganz gewiss ebenso spannende wie aber auch herausfordernde Zeiten. Dennoch: Wichtige Stationen und prägende Ereignisse lassen sich ja mitunter aus zeitlicher Ferne deutlicher erkennen.

Ohne hier den Weg der Bundesakademie von der Grundsteinlegung im Jahr 1968 als zentrale Einrichtung für den Bereich des instrumentalen Laienmusizierens, als Lehrgangs- und Tagungsstätte, als Beratungsstelle, als Dokumentationszentrum sowie zur Heranbildung von Nachwuchs- und Führungskräften bis zum heutigen Tage nachzeichnen zu wollen, an dieser Stelle nur einige wenige Gedanken:

Hier ist etwa aus den frühen Akademiejahren die Implementierung des noch heute gültigen Ausbildungssystems in der Amateurmusik zu erwähnen. Eine bundeseinheitliche Ausbildungsstruktur, die die Bundesakademie gemeinsam mit Ihren Mitgliedsverbänden der Amateurmusik entwickelt hat, die stetig aktualisiert und im Hinblick auf zeitgemäße musikpädagogische Standards überarbeitet wird.

Ein wichtiges Thema war und ist bis heute der Auf- und Ausbau eines Weiterbildungsangebotes für den instrumental- und vokalpädagogischen Bereich, insbesondere durch die Konzeption und Durchführung bundesweiter berufsqualifizierender Zertifizierungen. Die Bundesakademie Trossingen verfügt auf diesem Gebiet über einen aus mehr als 40 Jahren erworbenen Erfahrungsschatz und bietet in enger Kooperation mit ihren  Verbänden – hier insbesondere mit dem VdM, als einem ihrer größten Mitgliedsverbände – sowie in Zusammenarbeit mit Musikhochschulen Lehrkäften eine professionelle Erweiterung ihrer Unterrichtsqualifikation bzw. den Einstieg in neue Tätigkeitsfelder. Dank ihrer Flexibilität und der Möglichkeit, auf aktuelle Bedarfe zeitnah zu reagieren – ich denke hier z. B. an den sich schon heute abzeichnenden und zukünftig weiter zunehmenden Lehrkräftemangel –, ist und bleibt dieses zentrale Arbeitsfeld der Akademie für die Sicherung der Qualität und Kontinuität in der musikalischen Jugendbildung auch zukünftig von größter Relevanz.

Die enge Partnerschaft der Bundesakademie mit ihren Mitgliedsverbänden gehört seit jeher zu den wichtigen Säulen der Akademiearbeit. Im Trägerverein der Akademie vereinen sich 36 Musikverbände der Musikerziehung, des instrumentalen und vokalen Amateurmusizierens, der kirchlichen Musikpflege sowie musikalische Berufsverbände. Ein bundesweiter Zusammenschluss von Partnern, die sich allesamt mit Hand und Herz der musikalischen Bildung von Kindern und Jugendlichen verschrieben haben. Wir sind sehr froh, dass die Wirkkraft dieses Kompetenznetzwerks über die Jahre gewachsen ist und wir unsere Verbände nicht zuletzt durch Impulse zu aktuellen bildungspolitischen Themen wie auch durch unterstützende Projekte zu brennenden Zukunftsfragen im Bereich der Musikvereine und des Ehrenamtes in den vergangenen Jahren haben unterstützen und stärken können.

Permanente Erneuerung

Vieles wäre hier an weiteren Meilensteinen aus der Historie der Bundesakademie zu nennen. Nicht unerwähnt bleiben darf und soll eine der herausragenden Wegmarken unseres Hauses: Die umfassende Renovierung der gesamten Akademie, samt Neubau unseres klanglich und architektonisch beeindruckenden Konzertsaals. All dies über eine Spanne von fünf Jahren (2010-2015) bei laufendem Akademiebetrieb – eine Zeit, die für alle Beteiligten, für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für Teilnehmende wie auch für unsere Gastdozentinnen und Gastdozenten eine enorm herausfordernde und ereignisreiche war.  Dass die Bundesakademie sich in dieser großartigen Weise erneuern und für die Belange und Aufgabenstellungen der Zukunft hochprofessionell aufstellen konnte, ist in hohem Maße der Fürsorge und Wertschätzung unserer fördernden Ministerien auf Bundes- und Landesebene zu verdanken. Für dieses in den vergangenen 50 Jahren stets verlässliche und positive Miteinander sind wir im Rückblick äußerst dankbar und freuen uns auf alles Kommende.

nmz: Welche Herausforderungen stellen sich Ihnen in den nächsten Jahren?

Vierneisel: Der Wert des Bildungsauftrages der Bundesakademie Trossingen ist, wie eingangs in diesem Interview bereits gesagt, bedeutsamer denn je. Die gesellschaftliche Begegnung mit einer Welt, die immer dynamischer und komplexer wird, erfordert genau diese Werte.

Die Bundesakademie Trossingen war sich auch in der Vergangenheit immer bewusst, dass nur der gemeinsame Dialog, das offene Ohr, der interessierte Blick und der ergänzende Austausch Sorge dafür tragen, dass eine Bildung sich verändernden Bedarfen entsprechend und richtig anpasst. So versteht sich die Bundesakademie Trossingen nicht als Bildungsinstitution statischer Lehransätze. Sondern als innovativer und agiler Partner einer sich bedarfsorientiert verändernden und gleichsam gemeinverantwortlich zu sich selbst wachsenden Gesellschaft. Dies erfordert auch in Zukunft in und von der Bundesakademie eine entsprechende Gestaltungsstruktur und -kultur. Für diesen weiteren Weg sind wir bereit und freuen uns darauf. Was für eine schöne Aufgabe!

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