Ohne den Zeiten quasi kunstreligiöser, ansonsten aber zweckfreier Anschauung des Guten, Wahren, Schönen nun nachzutrauern, ist dennoch seit längerer Zeit zu beobachten, wie die Kunstdinge immer mehr und stärker zweckgebunden werden. Egal ob in Kontexten von Bildung, Kulturmarketing oder -förderung, so wird an ihnen doch überall nach ergebnisorientierten Kalkülen vermittels Erfolgskontrollen oder Zielvereinbarungen Maß genommen, frei nach dem Motto: Wir tun vorne etwas hinein und sehen, ob hinten etwas herauskommt. Neudeutsch verspricht das dann Impact, und auch die avanciertesten Projekte können sich dem nicht entziehen, laufen sie doch unter ebenso wissenschaftsaffinen wie fortschrittsoptimistischen Etiketten als Experiment oder zumindest Untersuchung – sammeln also Forschungsergebnisse für die Zukunft.

nmz 4/2024. Titelseite.
Relevant schon, aber bedeutend?
In der Musikvergangenheit jedoch, ob der älteren oder der jüngeren, war das die längste Zeit anders. Der Musikbegriff, der den aktuellen Betrieb immer mehr durchsetzt, entspringt einer Kultur des Förderns und Forderns, Stupsens und Schubsens. Er setzt vermittels Reiz-Reaktion-Wirkungen auf rasche Bedürfnisbefriedigung und kann dementsprechend ebenso von wackeren Neo-Pawlowianern der musikalischen Wirkungsforschung ausgezählt, wie von Streamingdiensten in Zählbares verwertet werden. Einstmals aber, und das ist gar nicht mal so lange her, ließ sich, ob und wie Kunst Wirkungen zeitigt, nicht so leicht herunterzählen. Ablehnung und Erfolg, Verkaufserfolge und Publikumszuspruch gab es zwar auch, allerdings nur als Beiläufigkeiten in einer realen Welt, die der Kunstwelt diametral entgegenstand. Man denke allein an Schubert oder an das objektive Phänomen Zeit und wie diese in dessen Werk künstlerisch aufgehoben wird. Subjektiv zu erfahren, galt als ein einmaliges Ereignis, induziert und gefolgt von komplexen und oft langen sinnlichen, kognitiven, physischen, psychischen Prozessen. Individuell halt, und was das C-Dur-Quintett oder die Winterreise zu bedeuten hatten, damit kam man kaum je ans Ende.
Damit ist aber bald, so wie es aussieht, endgültig Schluss. Nicht nur, dass den Menschen die Zeiträume für Kunsterfahrung, ja Kontemplation immer enger gemacht und ihnen Deutungen gleich mitgeliefert werden, auch verschwindet im zweckrationalen Kulturbetrieb – weil ihm Gegenstand von Kunst nicht die Kunst, sondern die Realität ist – jene fundamentale Differenz zwischen Kunst und Welt, welche das Erleben des Ästhetischen überhaupt erst reich und sinnvoll machte. Weil aber eindeutige Wirkungen eindeutige Bedeutungen benötigen, werden wir dann auch zugetextet vom Sprech aus Marketingabteilungen, nach dem Debussys „La Mer“ eine Seefahrt auf dem Orchester-Schiff mit Dirigenten-Kapitän verspricht und Bruckner erhabene Gefühle im Hochgebirge, was wenn es sogar von so scharfsinnigen Veranstaltern wie dem Musikfest Berlin daherkommt, trostlos stimmt.

nmz 4/2024. Titelseite.
Autonome Kunst, Absolute Musik mit ihrer Komplexität und ihrem Reichtum an Differenz jedoch waren nicht Durchgangsstationen einer ungebrochenen Entwicklung, sondern Abschluss einer historischen Kulturepoche, deren Fenster sich allmählich schließt. Dennoch wirken sie, wie sie wirken, und wenn heutzutage die Unabgeschlossenheit ihres Bedeutens unproduktiv erscheint, weil anschlussfähige Ergebnisse erwartet werden, dann fällt flach, dass sich Erfahrung überhaupt erst so bildet: fortwährend, unabgeschlossen. Nur so verfeinert und schärft sie sich zu einer welt- und menschenwürdigen Sensibilität. Dafür auch halten die entsprechenden Institutionen ihre Werke vor.
Und so kassiert das Bemühen um Relevanz und Anschluss an real existierende Gegebenheiten nicht nur den Autonomieanspruch des Kunstwerks, sondern den von Rezipienten gleich mit. Anstatt sie selbst sein zu können, sehen sie sich zu Angehörigen von Milieus, Kohorten oder schlicht zu Ressourcen erklärt, was ja von Fall zu Fall durchaus zutreffen kann, wobei den Hörenden und Betrachtenden jedoch zugleich das jeweils individuelle Erleben zugunsten von Gruppenangeboten entzogen wird. Da darüber hinaus der öffentliche diskursive Raum, in dem erörtert werden könnte, wie Kunstwerke nun zu deuten wären, in der gleichen Weise dominiert wird, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich in die Büsche von Chats und Foren zu schlagen, wo sie dann, Algorithmen sei’s gedankt, leicht zur Beute derjenigen werden, die dort so jagen mit dem Versprechen: Nur wir verstehen Euch, nur hier dürft Ihr sein, wie Ihr wollt. Was gleichermaßen gelogen wie faschistoid ist, wenn sich exklusiv homogenisierte Gruppen zur Heimwehr des desintegrierten Subjekts, des Erbes und desgleichen erklären.
Das Fenster zu historischen Vorbildern nicht zuschlagen zu lassen, könnte daher ganz sinnvoll sein, oder wie der stets progressive Giuseppe Verdi es sagte: „Zurück zu den Alten, es wird ein Fortschritt sein.“ Wie erinnerlich, entstammten die meisten Musikschaffenden, bis auf Ausnahmen wie die Fürsten Gesualdo oder Scelsi, weniger privilegierten Schichten, und wenn sonst mal nicht, dann wurden sie wie Meyerbeer oder Mendelssohn anders ausgegrenzt. Ihre und (beinahe) aller anderen Werke immer wieder zu erleben als Kunst vom Versprechen und Versagen, Erfüllung und Verzicht, setzt das Subjekt voraus und dieses zugleich imstand. Bedeutend ist daher nicht, was ihm Relevanz oder Impact vorlegt, sondern was es immer wieder zur Deutung und Selbstfindung einlädt.
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