Mit welcher Oper eröffnet ein Theater? Blättert man im Deutschen Bühnenjahrbuch, so nahmen in den letzten 100 Jahren Wagners „Meistersinger“ die Spitzenposition ein, gefolgt vom „Freischütz“ und verschiedenen Mozart-Opern. Ab und an finden sich auch Raritäten. So jetzt in Heidelberg, das in einem erstaunlichen Akt bürgerlicher Selbstbehauptung und Spendenfreudigkeit sein marodes Theater nicht nur saniert, sondern gleich einen neuen großen Theatersaal errichtet hat. (nmz-online berichtete.) Hier versuchte Regisseurin Elisabeth Stöppler, Piotr Tschaikowskys Oper „Mazeppa“ dem Anlass gemäß auf die Bühne zu bringen.
Wegen des politisches Gehaltes und der packenden, einfühlsamen Zeichnung der Charaktere sei es „höchste Zeit, dieses in Deutschland seltene Werk wieder neu für die Bühne zu befragen“, las man in der Annkündigung des Theaters. In „Mazeppa“, 1881-83 entstanden, verlässt Tschaikowsky den Salon des 19. Jahrhunderts, wie er in „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ zu erleben ist, und geht zurück in die Zeit des Großen Nordischen Krieges (1700-1721). Iwan Mazeppa war eine historische Figur. Als Hetman der ukrainischen Kosaken kämpfte er auf Seiten Polens und Schwedens, um der Ukraine die Unabhängigkeit von Russland zu erkämpfen. Das Opernszenario, an dem Tschaikowksy selbst mitgearbeitet hat, zeigt ihn als Machtpolitiker, der nach archaischer Weise Gefolgsleute um sich schart und persönliche Vorlieben, Kränkungen und Fantasien in politische Schachzüge bis hin zum Krieg umsetzt. In den letzten 20 Jahren ist dieser Typus wieder häufiger geworden. Manneskraft und Mannesehre spielen dabei eine große Rolle. Das Propaganda-Bild von Wladimir Putin mit bloßem Oberkörper etwa spielt mit diesen Vorstellungen.
Der schon betagte, aber immer noch sehr agile und nicht unsympathische Mazeppa hat sich in seine Patentochter Maria, das behütete Kind seines Duzfreundes Kotschubej, verliebt. Die junge Frau erwidert zum Entsetzen der Eltern diese Liebe, und vor die Wahl gestellt, entscheidet sie sich für Mazeppa. Kotschubej schwört Rache und zettelt eine politische Intrige an, die den vernichtenden Zorn des Zaren auf Mazeppa richten soll, der den Abfall von Russland plant. Mazeppa jedoch gelingt es, Kotschubej als Verleumder darzustellen und ihn in seine Hand zu bekommen. Er lässt ihn hinrichten und wagt wenig später doch den Aufstand gegen Peter den Großen. Der Kampf endet mit seiner Niederlage und Flucht. Er hat das Leben seiner jungen Frau, seiner Schwiegerfamilie, seines Volkes und letztlich auch sein eigenes ruiniert. Es ist ein Szenario, das in seinen Konstellationen an Mussorgskys „Boris Godunow“ oder Borodins „Fürst Igor“ erinnert.
Tschaikowskys Handschrift
Tschaikowskys persönliche Handschrift wird dennoch deutlich. Zunächst in der Figur des Andrej, des unglücklichen Liebhabers: Er ist Marias Jugendfreund, doch als er ihr seine Liebe offenbart, weist sie ihn zugunsten Mazeppas ab. Andrej verzichtet, begleitet aber aus der Entfernung Marias Lebensweg. Trotz dieses leidenschaftlichen Eröffnungsduetts und trotz des späteren Eklats ist der 1. Akt insgesamt durch idyllische, heitere und folkloristische Element geprägt – mit pittoresken Volksszenen im Mittelpunkt. Später werden Farben und Stimmung düster; die guten Zeiten sind vorbei - eine Entwicklung, die schon die Ouvertüre vorwegnimmt, in der die zarten Episoden von heftigen Blechbläserattacken überrollt werden.
Im 2. Akt ist Kotschubej in Mazeppas Folterkeller gelandet. Die Oper schildert das brutale Verhör. Maria, die in einer Art goldenem Käfig lebt und sich um die Außenwelt nicht kümmert, weiß nichts vom Schicksal des Vaters, leidet allerdings unter der häufigen Abwesenheit des Gatten. Der hat außer seiner jungen Frau noch die weitere Karriere und die Abrechnung mit den politischen Feinden im Kopf. Ein skrupelloser Potentat ist er indessen nicht. Zwar will er Kotschubejs Tod, zögert aber um Marias willen. Sein Zwiespalt führt zu einer der psychologisch großartigsten und zugleich beängstigendsten Opernszenen überhaupt. In einer Mischung aus Manipulation und Selbsttäuschung malt er seinen künftigen Aufstieg als Befreier der Ukraine aus und ringt der davon berauschten Maria die Aussage ab, alles für ihn opfern zu wollen, auch den Vater – was er dann quasi als Absolution interpretiert. Als sich Marias Mutter Ljubow hilfesuchend ins Schloss schleicht, braucht die Tochter lange, um überhaupt die Situation zu verstehen, und einen Moment zu lange, um den Vater zu retten.
Im skurrilen Auftritt eines betrunkenen Kosaken, der zynisch die bevorstehende Hinrichtung kommentiert, und in der zerrissenen Schlachtmusik zu Beginn des 3. Aktes, die Mazeppas Niederlage in der Schlacht bei Poltawa schildert, lässt sich Tschaikowskys bittere Kritik am menschenverachtenden Verlauf der Geschichte heraushören. Der Schluss nimmt dann eine Wendung von hoher psychologischer Dichte. Die Überlebenden zieht es zurück an den Ausgangspunkt, das zerstörte Anwesen der Kotschubejs. In den Trümmern begegnen sich der fliehende Mazeppa, sein Verfolger Andrej und die vollkommen traumatisierte Maria. Mazeppa kommt Andrej, dem ewigen Verlierer, mit einem tödlichen Schuss zuvor, aber die in ihrem Wahn hellsichtige Maria erkennt in ihm nicht mehr den strahlenden Ehemann, sondern nur noch einen hässlichen Alten. Wieder allein, singt sie an der Seite des sterbenden Andrej ein Wiegenlied, als ob sie beide noch einmal ganz von vorne an-fangen könnten. Die Rückkehr an den Ort einstigen Glückes wird zum Rückblick auf lauter gescheiterte Lebenswege. Der Krieg hat nichts als Opfer hinterlassen.
Alle Register des Regietheaters
Es ist gut vorstellbar, dass zu dieser Heidelberger Eröffnungspremiere Regisseurin Elisabeth Stöppler sich unter Druck gefühlt hat, in und mit dem neuen Haus möglichst viel Handwerk zu zeigen. Jedenfalls zieht sie ohne Rücksicht auf Verluste so ziemlich alle verfügbaren Register des Regietheaters. Es beginnt mit der doppelten Be-bilderung der Ouvertüre. Nicht nur, dass die Darsteller von Statisten angekleidet werden, sie werden dabei auch noch per Videokamera gefilmt – mit der Folge, dass die Musik unter der Bilderflut vollends verschwindet. Mittendrin schießt ein anonymer Attentäter den späteren Kotschubej-Darsteller (Wilfried Staber) ins Bein; das bringt einen Rollstuhl ins Spiel, den man im weiteren Verlauf hin- und herfahren, umstürzen und stellvertretend ansingen kann. Und natürlich kann man den Rollstuhlfahrer misshandeln.
Neben der Inszenierung von Behindertenfeindlichkeit gehört auch die Frauenfeindlichkeit zum Standard-Repertoire. Die Männer holen sich mit Gewalt, was sie begehren. Andrej (Mikhail Vekua) drückt Maria (Hye-Sung Na) die Pistole an den Kopf, um einen intensiven Kuss zu erzwingen, Mazeppa (James Homann) herrscht die Geliebte an und wirft sie zu Boden, und Kotschubejs Vertrauter Iskra (Namwon Huh) vergewaltigt sie symbolisch mit dem Schwert – als szenischer Stellvertreter des betrunkenen Kosaken. Maria, die sich ja immerhin für Mazeppa entscheiden darf, bleibt ein Girlie-Püppchen im Jungmädchenkleid, während ihre Mutter Ljubow (Anna Peshes) im 2. Akt theatralisch als schwarzgekleidete Rachegöttin erscheint, um ihrer Tochter dann erst einmal die Situation zu erklären. Überhaupt tragen hier die Figuren ihr Herz auf der Zunge, oder noch besser, in den Fäusten; Hemmungen im Umgang oder Spannung aus der Distanz gibt es nicht; Kommunikation per Sprache ist „out“, outrierte Körperlichkeit „in“.
Aus dem verwirrt-hellsichtigen Text der Maria im 3. Akt stammen zwei Raubtierbilder. Stöppler bringt Adlermaske, Wolfskopf und weitere archaische Totemtiere schon im 1. Akt ins Bild, auf dass man das Böse der geschilderten Sammler- und Jägergesellschaft sogleich erkenne, und so fallen denn die Männer vereint über den Frauenchor her. Die Adlermaske hat den Vorteil, dass Mazeppas Folterer Orlik (Michael Zahn) sie zwischenzeitlich über die stets präsente Videokamera hängen kann. Gefilmt wird immer wieder von den Akteuren selbst – nicht nur in den Momenten politischer Repräsentation und in öffentlichen Situationen, sondern auch daheim oder im Folterkeller, als gelte es, die Fans mit dem neuesten Bildern der installierten Webcam zu versorgen oder demnächst ein Bekennervideo mit aktuellen Folterbildern zu verschicken. Das Kabel der Kamera öffnet weitere szenische Optionen: Es eignet sich zum Drüberstolpern, Personen-Einschnüren und Zerreißen.
Im 3. Akt hat sich sogar Maria des Jungmädchenkleids entledigt und begleitet Mazeppas Feldzug als „eingebettete“ Filmreporterin im Arbeitsanzug. Alles im Leben ist Inszenierung, will uns das sagen, aber wahrscheinlich hatte doch Bertolt Brecht Recht, der immer wieder die entfesselte Maschinerie am Werk sah: „Das Theater theatert alles ein.“ Es dürfte nicht nur an der neuen und noch wenig erprobten Akustik liegen, wenn die Sänger allesamt forcieren, sich manchmal die Seele aus dem Leib schreien und kaum einmal zu leisen Töne finden, wie sie das vom neuen GMD Yordan Kamdzhalov transparent und ansprechend geführte Philharmonische Orchester Heidelberg durchaus an den Tag legt. Lautstärke ist wahrscheinlich für die Darsteller das letzte, instinktive Mittel, der Musik und den in ihr verkörperten Gefühlen überhaupt noch Gehör zu verschaffen.
Die Bühnen-Toten erheben sich
Spielte das Stück auf der von Karoly Risz gestalteten Bühne zunächst noch vor einem Unübersichtlichkeit andeutenden Schleier aus schwarzen Lamellen, so wird die Hinrichtungsszene als Schattenriss auf einer transparenten Hinterwand sichtbar – allerdings um den Preis, dass der Chor ziemlich blechern aus dem Lautsprecher tönt und als betroffene (und keineswegs gewaltverherrlichende) Stimme des Volkes szenisch an den Rand gerät. Dass zum Aktschluss die Wand hochfährt und Scheinwerfer bedrohlich ins Publikum leuchten, ist dann der nächste Effekt aus der Regietheater-Kiste. Im 3. Akt spielt nicht nur eine Banda durch die geöffneten Türen des Foyers, sondern auch von der Bühnenkante in den Zuschauerraum, eindrucksvoll in der Wirkung, wenn auch teilweise leicht verwackelt. Anfangs ist die Bühne hier noch übersät mit Trümmern und Leichen. Aber die Bühnen-Toten erheben sich einer nach dem andern, ziehen die Kostüme aus und gehen ab. Emsige Helfer räumen auf und rollen auch die schwarzen Bänder zusammen, bis nur noch die Hauptpersonen übrig bleiben und der Blick auf die Hinterbühne offen ist. Nur das rote Kleid, hochgehalten von einer als Garderobenständer fungierenden Statistin, bleibt fast bis zum Schluss.
Ganz am Ende ist nur noch der sterbende Andrej übrig. Man schnallt ihn fest an einen der Bühnenzüge, und er entschwebt langsam in den Bühnenhimmel. Die Bühne liegt aufgeräumt und frei – frei von „Mazeppa“ und frei für die Darsteller, das gesamte technische Personal und sämtliche Orchestermusiker. Dicht gedrängt stehen sie da beim Schlussapplaus und blicken in den großzügigen neuen Zuschauerraum. Und da wird mit einem Mal deutlich, worum es eigentlich an diesem Abend geht: Um eine Feier des Theaters in vielfacher Hinsicht. Theater ist der (neue) Bau, Theater sind die dort beschäftigten Menschen, Theater sind die unendlichen Möglichkeiten der Szene, und Theater ist die Institution, zu der sich die Heidelberger Bürger so eindrucksvoll bekannt haben. Ein Festwiesen-Gefühl kommt da auf, tief unten im Bauch – und im Kopf die Idee: Hätte man für diesen Abend doch nur die „Meistersinger“ genommen!