Werbung für die englische Monarchie ist es nicht gerade, was Camille Saint-Saëns mit dem Opernvierakter „Henry VIII.“ bietet. Oliver Py hat den 1883 in Paris uraufgeführten und heute nahezu vergessenen Blockbuster jetzt in der La Monnaie Oper in Brüssel auf die Bühne gewuchtet. Und das mit allen Schikanen, mit denen Giacomo Meyerbeer, Fromental Halévy, Hector Berlioz, aber auch Gioachino Rossini, Verdi und Wagner mit einigen ihrer Werke die Oper so aufgerüstet haben, dass sie zur sprichwörtlichen Große Oper, also der Grand opéra wurde und für Jahrzehnte das Genre dominierte.
In der Regel fünf Akte mit ausgedehnten Balletteinlagen, als Plot große Geschichte im Panoramablick und auf der Bühne mit allen technischen Schikanen, die die Opernhäuser als Stätten der Demonstration von bürgerlichem Selbstbewusstsein zu bieten hatten. Am Ende von deren Vorherrschaft entkommt „Henry VIII“ ihren Maßstäben und ihrem Abglanz nicht. Obendrein musste sich der Franzose dem Verdacht zu große Wagnernähe entgegenstemmen….
Geplant hatte Peter de Caluwe dieses Spektakel schon für 2021 zu Saint-Saëns’ einhundertstem Todestag. Durch die Verwerfungen der Pandemie ist es jetzt, zwei Jahre später, nach dem spektakulären „Bastarda“-Projekt herausgekommen. Unter diesem Titel hatte die La Monnaie Oper aus vier Donizetti-Werken eine geschickt collagierte, zweiteilige (und auf zwei Tage verteilte) Biografie über den Aufstieg und Fall von Elisabeth I. gemacht. Spielte Heinrich VIII. da als Vater noch eine illustrierende Nebenrolle, so steht er bei Saint-Saëns und seinen Librettisten Pierre Léonce Détroyat und Armand Silvestre (die sich auf Vorlagen von William Shakespeare und Pedro Calerón de la Barca stützten) im Zentrum. In dem historisch prickelnden Abschnitt seiner Biografie, in dem er seine erste Ehefrau Katherina von Aragon abserviert und zu Anna Bolena wechselt, daraus eine Staatsaffäre von weltpolitischer Bedeutung macht, sich mit dem Papst verkracht und eine Kirchenspaltung verursacht, bis zu Annas Enthauptung. War er in der „Bastarda“-Version noch der Renaissancefürst von dem neben den Traumata ihrer Kindheit auch ein Abglanz seiner prachtvollen Erscheinung die Tochter traf, so bleibt hier nicht viel übrig, was man aus heutiger Sicht zu seinen Gunsten ins Feld führen könnte. Als Politiker ist der selbstherrliche Herrscher ein Stammvater aggressiver Brexitiers. Als Mann ist er die Machokatastrophe schlechthin. Für die betroffenen Frauen war das bekanntlich lebensgefährlich. (In der Beziehung kommt sein späterer sächsischer Womanizer-Kollege August der Starke deutlich besser weg.)
Die Kunst der Regie von Olivier Py besteht darin, nichts zu beschönigen, aber eben auch kein Monster auf die Bühne zu stellen, vor dem man beim ersten Anblick erschrickt. Beim belgischen Bariton Lionel Lhote ist der Despot das Musterbeispiel eines kontrollierten Machtpolitikers. Mit ihrer Inszenierung bewegen sich Py und sein Stammausstatter Pierre-André Weitz zwar vor allem im Frack-und-Zylinder-Jahrhundert, in dem die Oper entstand. Aber mit dem Habitus dieses Königs würde auch heute jeder (gewählte) Präsident Eindruck machen. Die Bühne verbindet die Entstehungszeit des Werks und die historische Periode des berühmt berüchtigten Tudor-Königs und spielt bewusst und gekonnt mit Anachronismen, zu denen auch die bemalten Leinwände mit Reproduktionen von Werken Tintorettos gehören und aus denen sich einmal sogar die Tänzer herauswinden, als wären sie die Widergänger der dargestellten Körper. Ivo Bauchieros Choreografie fügt sich insgesamt organisch ergänzend in die Bühnen-Ästhetik ein.
Die Bühne besteht aus einer Variante der von Weitz schon oft für Py-Inszenierungen verwendeten dunklen architektonischen Elemente, die einen schnellen Wechsel zwischen Innen- und Außenräumen erlauben, Platz für die eingeflochtenen surrealen Ballettelemente liefern, aber auch den Raum für echte Coups lassen. Einer davon ist das Grand-opéra-kompatible Zitat der Lokomotive, die (wie tatsächlich in einem spektakulären Unglück 1895 im Pariser Bahnhof Montparnasse) durch die Wand krachte. Das war schon in einer legendären Brüsseler Offenbach-Inszenierung von Herbert Wernicke das Bild für die Ankunft der Götter in der Unterwelt. Bei Py wird es eine Reminiszenz, die auf dem Höhepunkt der Selbstüberhebung des Königs an dessen Endlichkeit erinnert. Komplementär dazu ist die Szene, in der König hoch zu (echtem, brav im Kreis trottenden!) Ross den päpstlichen Prälaten das erste Mal abkanzelt. Py gibt der Grand opéra aber auch da das Showgepränge, wenn er die Synode, von der der König seinen Abfall von Rom beschließen lässt, wie ein Konklave in die Kulisse eines grandiosen Renaissancetheaters (nach dem Vorbild des Teatro Olimpico in Vicenza) platziert.
In diesem Rahmen und mit diesen Höhepunkten läuft die Intrige, mit der Heinrich VIII. sich von Frau Nr. 1 bis zu Nr. 3 vorarbeitet, mit der teuflischen Präzision eines Uhrwerkes ab.
Alain Altingoglu weist im Programmheft drauf hin, dass Saint-Saëns der Respekt vor dem Text und vor der französischen Prosodie äußerst wichtig war und es ihm stets um die Verständlichkeit des Textes ging. Er beeindruckt auch mit gewaltig aufrauschenden Chören, melodisch fein ausgeführten Orchesterpassagen und ließ sich von britischer Renaissance-Musik inspirieren. Aber den Fluss der Musik bestimmt das mit dem Text eng verflochtene, ausufernde Parlando. Altingoglu setzt bewusst auf die Transparenz des Orchesters und eine französische Melodik, die diese Musik von Wagner unterscheidet. Mit dem Betonen einzelner Instrumentengruppen unterstreicht der Dirigent das dramatische Geschehen auf der Bühne.
Vor allem (aber nicht nur) in den vier gleichsam vokal „klassisch“ besetzten Hauptpartien stehen in Brüssel überzeugende Protagonisten auf der Bühne. Der Sopranistin Marie-Adeline Henry kommt als Catherine d’Aragon das Privileg der Sympathieträgerin zu, die nicht nur ihren Auftritten als rechtmäßige Königin (und stolze Spanierin) Würde verleiht, sondern auch im Kampf mit der Rivalin Anna Boleyn und gegen die absurde öffentliche Bloßstellung auf der Synode mit erheblicher Attacke in der Stimme bis hin zur Schärfe aufwarten kann. Nora Gubisch hingegen setzt bewusst auf das Überfließen von Sinnlichkeit ihres wohltimbrierten Mezzos, den sie mit dem Triumph der Aufsteigerin verbindet. Sie entgeht gleichwohl selbst nicht dem tiefen Fall. Sie findet erst in der letzten Begegnung mit ihrer Rivalin menschliche Größe in der gemeinsamen Verzweiflung. Für den tyrannischen Macho, den Lionel Lhote vom Scheitel bis zur Sohle verkörpert, ist Tenor Ed Lyon als spanischer Gesandter Don Gomes allenfalls ein stimmlicher Ausgleich im Quartett der Hauptprotagonisten. Als Ex-Geliebter von Anna Boleyn und treu zu „seiner“ spanischen Königin Catherine stehender Spanier und als Mann hat er keine Chance. Und – anders als der Großinquisitor in Verdis „Don Carlos“ muss der Prälat des Papstes (Vincent Le Texier) hier bei der Konfrontation mit dem König sogar um seine körperliche Unversehrtheit fürchten.
Da wo das Private ins Politische wuchert wird es musikalisch und szenisch spannend. Musikalisch und optisch opulent und eine lohnende Entdeckung ist dieser dreieinhalb Stunden dauernde Abend allemal!