„Faust“ auf die Bühne zu bringen, das ist sowieso nie und erst recht nicht zu Ostern eine schlechte Idee. Nicht zuletzt, weil da beinahe jeder an den Osterspaziergang denkt. Doch der Faust-Stoff ist älter, bekanntlich viel älter als Johann Wolfgang von Goethe und „Vom Eise befreit ...“. Eine sehr selten gespielte Faust-Oper haben jetzt die Landesbühnen Sachsen in Radebeul bei Dresden ausgegraben: „Faust“ von Louis Spohr. Eine Opernrarität als schweres Erbe, an dem man sich rasch verheben kann, oder ein romantisches Leichtgewicht, das vielleicht zu Recht vergessen ist?
Dieser „Faust“ wurde 1816 am Prager Ständetheater uraufgeführt. Damals unter der Leitung Carl Maria von Webers, der den Violinvirtuosen und Komponisten Louis Spohr außerordentlich schätzte und von dessen „Faust“ so angetan war, dass er sich in seinem „Freischütz“ fünf Jahre später noch darauf berief. Spohr freilich hat sein frühes Singspiel mit einigem Abstand gründlich überarbeitet und es 1852 in italienischer Übersetzung am Londoner Royal Opera House als dreiaktige Oper herausgebracht. In Radebeul hat der dortige Operndirektor Horst O. Kupich nun eine Mischform in der Verschmelzung beider Vorlagen inszeniert, den Fauststoff aber aus einem romantisch gemixten Ur-Faust (nach dem Libretto von Josef Karl Bernard, frei nach Maximilian Klinger und Heinrich von Kleist) in eine indifferente Comic-Welt aus Klamotte und Bühnenmär versetzt.
Die Geschichte ist denn auch eine ganz andere als die um Faust, Gretchen, Mephisto und Marthe. Hier will der Meister die Welt retten, hat den Teufelspakt wohl auch nur halbherzig geschlossen, wird ihn freilich erneuern, als es ums Eingemachte geht. Dass ihm dank eines Zaubertrunks die Frauen zu Füßen liegen, ist die eine Seite. Leider ist sie untrennbar damit verbunden, dass alle Sympathiepunkte der eigenen Geschlechtsgenossen rasch verspielt sind. So macht dieser Faust, ohne auf Erkenntnisgewinn aus zu sein, denn auch bald ziemlich schlechte Erfahrungen. Abgesichert ist diese Gier nur durch die teuflische Macht, doch Mephisto war noch nie selbstlos genug, als dass es ihm nicht um Sieg auf der ganzen Linie gegangen wäre. Den trägt er davon, nachdem Faust ein paar Leichen auf dem Gewissen hat.
Die aus heutiger Sicht reichlich blümerante Vorlage ist in eine Musik der Übergangszeit gebettet. Da bäumt sich mal das Klangbild des Steinernen Gastes aus „Don Giovanni“ auf, tönt es auch sonst noch häufig nach Mozart, werden Reminiszenzen ans Zeitalter der Singspiele wach, während wenige Takte entfernt schon Webers Romantik auflauert, durch die hier und da auch mal ein Stück Wagnersche Fülle blinzelt. Nicht ganz überraschend stellt sich dennoch die Frage, die nach Opernausgrabungen ja oft aufkommt, ob manch ein Werk nicht auch zu Recht vergessen worden ist. Hörenswerte Musikstücke als Teile vom Ganzen müssen durch diese Fragestellung ja nicht gleich in Misskredit geraten.
Die Regie in Radebeul wollte der Antwort offenbar zuvor kommen und hat die romantische Klamotte durch einen Zeittunnel gezogen, ohne aber tatsächlich ganz im Heute anzukommen. Unterirdisch werden der Pakt geschmiedet, das brave Röschen verführt, Treue geschworen und wieder gebrochen. Faust rettet Kunigunde, die vom bösen Gulf entführt wurde, will sie dann aber nicht dem Bräutigam Hugo überlassen. Denn er hat sich – mal wieder – verguckt, muss also Hugo ausschalten, gelangt immer mehr in die vermeintlichen Höhen der Macht, ohne jedoch Kunigunde ein einziges Mal zu besitzen. Das verzweifelte Röschen bringt sich kurzerhand selbst um; Faustens Abstieg aus der Chefetage ist ein gewaltiger.
Zwar symbolisieren höllische U-Bahn-Geräusche und zum Himmel stürzende Bürobauten das Unten und Oben, einen Weg schlägt Meister Faust aber nicht ein, er durchläuft nur Stationen. Für seine vier Freunde scheint das Leben eine einzige Nacht der langen Messer zu sein, er selbst giert nach geiler Zweisamkeit, Mephisto hält sich hölzern steif als Gründgens-Verschnitt mit roten Händen im Hintergrund, die Frauen sind blond und eher willenlos, Gulf könnte einem semi-brutalen Comic und Hugo einer Schmonzette aus der Ritterzeit entsprungen sein.
Zur Entfaltung kommt auf der kleinen Bühne (Bild: Stefan Wiel, Kostüme: Ella Späte) nur wenig, die Partitur immerhin wird von GMD Michele Carulli und dem Orchester der Landesbühnen gestaltet, stößt sich akustisch aber an den engen Grenzen des Raumes. Immerhin ist von einem spielfreudigen und klug haushaltenden Bariton Norman D. Patzke zu berichten, der den Titelpart so überzeugend wie klangschön erfüllt hat. Hagen Erkrath hielt sich als Mephisto im selben Stimmfach vornehm zurück. Die beiden Soprane Judith Hoffmann und Anna Erxleben als Röschen und Kunigunde hätten von der Regie gewiss mehr Profil verdient, erwiesen sich aber durchaus als stimmig jugend- und stimmlich kraftvoll genug, um so sehens- wie hörenswerte Faust-Rollen – und keineswegs seelenlose Begierde-Objekte – darzustellen. Respekt verdient sowieso die Tatsache, dass immerhin das komplette Dutzend Solisten aus dem hauseigenen Ensemble gestaltet werden konnte, ergänzt von einem ambitionierten, teilweise allerdings ebenfalls nur ungenügend geführten Chor.
Das Radebeuler Premierenpublikum zeigte sich am Ostersamstag recht freundlich und vom Resultat der faustischen Wiedererweckung angetan. Auch ohne den Osterspaziergang. Louis Spohrs Oper „Faust“ ist (nach dem Bielefelder Versuch 1993) das Glück widerfahren, als Rarität des Musiktheaters wieder einmal aus dem Vergessen gehoben und in der gegenwärtigen Theaterpraxis geprüft worden zu sein. Nicht nur die handwerklichen Schwächen dieser Inszenierung lassen vermuten, dass Spohrs „Faust“ als Repertoirestück kaum taugt und bald wieder in der Raritätenkiste versinkt.
Wieder am 11., 16. und 30. April sowie am 24. Mai 2010