Dass sich ein Geschichtsmuseum ausgerechnet mit Jazz beschäftigt, ist eher ungewöhnlich. Entsprechend vorsichtige Zurückhaltung übte denn auch das Publikum, als das Deutsche Historische Museum Berlin Ende Mai im Schlüterhof vier Tage lang ein deutsch-polnisches Jazzfest steigen ließ. Der Anlass war kein Selbstzweck, sondern eng mit dem Geschichtsforum 1989 | 2009 verbunden, das im geschichtsträchtigen Haus vorwiegend mit Ausstellungen und Diskussionsforen den Blick auf das Geschehen von vor zwanzig Jahren lenkt.
Zwei bewegte Jahrzehnte sind seit dem Herbst 1989 vergangen, in unglaublicher Geschwindigkeit ist eine Zeit vorbeigerauscht, die manchmal ein Innehalten, ein Aufhorchen verdient hätte. Doch längst ist alles und jeder im Strudel mitgerissen, muss sich im Alltag behaupten und schaut hilflos zu, wie die Geschichtsklitterung ihren Lauf nimmt. Mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung soll das Geschichtsforum 1989 | 2009 diverse Aspekte dieses Zeitraums beleuchten, da ist es verdienstvoll, wenn nebst trockener Redelast und ausgestellter Materialfülle auch andere Töne erklingen, frischer Wind sozusagen das Forum durchweht, ohne jedoch nur schmückend Beiwerk zu sein. Denn der Jazz, naturgemäß ein Genre voll Widerspruch und Aufbegehr, hatte in den Jahren des Eisernen Vorhangs neben der puren Improvisationslust auch politische Intentionen. Selbst wenn die von Musikern und Publikum gar nicht immer gewollt waren, wurden sie den Jazzgemeinden im Ostblock nicht selten von den jeweiligen Machthabern aufgedrängt.
Insbesondere die polnische Jazzszene war lange vor 1989 eine heftig veränderliche Größe. In den 50-er Jahren nahezu verboten, etablierte sich die freie Musik zunehmend als eigenständiger Ausdruck von gestalterischem Selbstbewusstsein und künstlerischer Reife. Nicht wenige Liebhaber pilgerten geradezu über die einst sozialistischen Grenzen, um daran teilzuhaben. Einer wie Bert Noglik, lange Jahre künstlerischer Leiter der Leipziger Jazztage, hat gar beizeiten in Warschau mitgearbeitet und kennt die Materie folglich aus allererster Hand. Kein Wunder, dass er wiederholt schon in früher Vergangenheit Solisten und Ensembles aus Polen vorgestellt hat. Auch im Geschichtsforum 1989 | 2009 waren sein Wissen und seine Kontakte gefragt, gemeinsam mit Ulli Blobel kuratierte er das Festival „Sounds No Walls – Friends & Neighbours in Jazz“. Im Ergebnis erklangen unvergessliche Konzerte mit alten Bekannten und jugendlichen Entdeckungen, mit musikalischer Urwüchsigkeit und Neuausformung, obendrein gab es Begegnungen mit gestandenen Koryphäen der deutschen und amerikanischen Jazz.
Altmeisterlich qualitätsvoll ging es etwa mit dem Saxofonisten Zbigniew Namislowski zu, der – darin vergleichbar wohl nur noch dem Trompeter Tomasz Stanko – längst als führender Vertreter des polnischen Jazz gilt. In seine musikalische Fußstapfen tritt derzeit etwa ein Adam Pieronczyk, der stets expressive Spiellaune ausstrahlt und in Berlin auf das Trio von Silke Eberhard traf. Höchst spannungsgeladen auch das Marcin Wasilewski Trio, dessen Auftakt erst einmal vollkommen souverän stimmungsvoll leisere Töne angetupft hat, wie um einen Klangteppich zu wirken für das dann folgende Spitzentreffen von Ernst-Ludwig Petrowsky mit dem polnisch-dänischen Quintett Kattorna. Der Name dieser ungemein faszinierenden Band geht auf ein Hauptwerk von Krzysztof Komeda zurück, einem der Pioniere des polnischen Jazz, der wiederholt auch mit Filmmusik für Furore sorgte. Petrowsky ist dem früh verstorbenen Meister noch persönlich begegnet und in Freundschaft verbunden gewesen, darüber hätte man gern mehr erfahren, erfuhr es freilich eher andeutungsweise im fulminanten Spiel des saxofonen Giganten.
Auch die Gelegenheit, seinen Kollegen Ulrich Gumpert am Klavier zu erleben, gab es im Schlüterhof. Mit der bläserlastigen Workshop Band präsentierte er ein Klangereignis unterm Glasdach, das im Historischen Museum Geschichte schreiben dürfte. Eine ebenfalls schon in der Jazz- und Zeitgeschichte beheimatete Persönlichkeit kam schließlich mit dem Amerikaner Billy Harper am Tenorsax, der mit seiner Band und dem polnischen Trompeter Piotr Wojtasik brillant für internationale Weitung des Festivals „Sounds No Walls“ zu sorgen verstand.
Noch mehr Jazz gab es zudem in Nachtkonzerten der Berliner Clubs Aufsturz und A-Trane, wo deutsch-polnische Aufeinandertreffen das Anliegen der Veranstalter nachhaltig hautnah erlebbar machten. Bleibt zu wünschen, dass dies kein einmaliges Spitzentreffen von Freunden und Nachbarn gewesen ist, sondern Blobel und Noglik ihr Engagement in Berlin und damit in deutscher (nicht nur: Jazz-) Geschichte sinnvoll fortsetzen können.