Dresden hat es nicht leicht: Die kommunale Tourismusfirma der sächsischen Landeshauptstadt ist mangels Kompetenz abgewickelt, Besucherströme ebben dank globaler Systemkrise deutlich ab, Frauenkirche und Grünes Gewölbe sind, bis vor kurzem noch spektakulär, inzwischen Alltag geworden, die UNESCO hat den Ort wegen eines seit Jahren und immer noch nachhaltig umstrittenen Brückenbaus gar auf die Rote Liste gesetzt, dank einer Initiative für einen Konzerthausneubau sind neue Streitfelder ausgemacht, Sachsens Chipindustrie ist von der Pleite bedroht … – wenn sich hier also mal etwas bewegt, dann tritt es meist auf der Stelle.
Nicht so in Sachen Jazz. Da gibt es – seit Jahren – rührige Mitstreiter, die den Jazzclub Neue Tonne e.V. betreiben. Als Heimstatt dient ihnen inzwischen ein Keller unterm sogenannten Kulturrathaus. Dessen Akustik ist eher mau, doch die Riege der musizierenden Gäste zeugt von Inspiration und Kompetenz bei der Einladungsauswahl.
Hier herrscht also ein gerüttelt Maß an Geschmack, Sachverstand und jazzigem Interesse. Insofern ist es wenig überraschend, dass die Enthusiasten neben den regelmäßigen Konzerten auch auf ein eigenes Festival schielten. Seit nunmehr fünf Jahren gibt es die „Jazzwelten“, deren jüngste Folge soeben beendet worden ist. Sie war zugleich Abschluss einer thematischen Trilogie, auf „Grenzgänge“ (2007) und „Zeitsprünge“ (2008) folgten nun „Spannungsfelder“. Solche Titel klingen immer irgendwie schön, sind aber meist Binsenweisheiten, zumindest wenn es wohlverstanden um Jazz geht. Der bietet spannende Felder per definitionem. Sonst wäre es nur kommerzielle Folklore.
Den Machern in Dresden mag zu wünschen sein, für die Zukunft griffigere Themen zu finden (oder die Marotte zu lassen). Doch die Konzeption ihres Programms ließ keine Zweifel und kaum Wünsche offen. Hier wird in der Tat auf Innovation gesetzt, obendrein gelingt es, trotz des Griffs nach namhaften Gästen veritable Entdeckungen zu präsentieren. Insgesamt mag das im März 2009 keine befriedende Publikumsresonanz beschert haben, schlitterte jedoch nicht in mainstreemige Anbiederung hinein.
Gut möglich, dass dies mit am heftig gekürzten Werbebudget lag. Bekanntlich geht ja die Hälfte des eingesetzten Geldes ohnehin in die Luft, fraglich ist immer nur, welche. Der finanziell erzwungene Verzicht auf Präsenz im Stadtbild mag problematisch sein, ein Dilemma war es noch nicht.
Inhaltlich stemmte das kleine Festival beachtenswerte Konzerte, darunter die Deutschlandpremiere der slowakischen Jazzrocker „Fermáta“, deren Entdeckung für breitere Kreise längst an der Zeit war. Unendlich stimmungsvoll kann dieses Quartett musikalisch Geschichten erzählen und den berühmten Funken als Vulkanausbruch auf das Auditorium überspringen lassen. Ein Dutzend Einspielungen liegt von der Gruppe vor und sollte Anlass sein, sie öfters zum Gastspiel zu laden.
Ausflüge in rockige Gefilde des Jazz hat auch Univers Zero versprochen – und selbstredend gehalten. Die Mannen um Gründungsmitglied Daniel Denis haben noch immer den Geist aus den 1970-er Jahren, der in erster Linie beinhaltet, sich nicht um feste Regeln zu scheren. Widerspenstige Avantgarde, die klassische Strukturen nicht scheut, um darauf aufzubauen und mit braven Hörgewohnheiten radikal abzurechnen.
Solche Ereignisse erfüllen natürlich das Motto der „Spannungsfelder“, wenngleich diverse ähnlich gelagerte Vokabeln wohl ähnlich griffig gewesen wären. Musikalische Spannbreite immerhin reichte auch bis zu folkloristisch angehauchten Konzerten etwa von – ebenfalls zur Deutschlandpremiere nach Dresden geholten – „Gaia Cuatro“, in der japanische Motivik auf südamerikanischen Tango trifft, oder bei der 40. „Vocal Night“, einer Reihe mit Jazzgesangsstudenten der Musikhochschule vor Ort. Die wurde erstmals zur Eröffnung des Festivals geladen und bestach mit einer höchst soliden Auswahl in enormer Vielfalt, bis hin eben auch zu Spurensuchen auf dem Feld der Folklore.
Dem Nachwuchs des Jazz galt auch ein Auftritt mit vier jungen Musikern aus Polen, die als „Fourth Floor“ mit Marimba- und Vibraphon durch die Konzertsäle ziehen und denen neben der optischen Aufmerksamkeit die Faszination durch vitale Spielfreude zu lateinamerikanischen Themenbezug gilt.
Gleich als „Weltpremiere“ betitelt wurde neben einem jazzbespielten Filmprojekt das Arrangement von Alphorn und Glockenspiel im historischen Zwinger. Das lockte schon wegen des Touristenambientes auch internationale Hörerschar an, war aber „nur“ der Auftakt zum abendlichen Auftritt von Arkady Shilkloper, der neben dem Alphorn auch Horn und Flügelhorn spielt und damit im Verbund von „Pago Libre“ überzeugende Verfremdungen betreibt. Bemerkenswert in diesem Quartett der Bassist Georg Breinschmid, der erstaunliche Tempi an den Saiten vorgibt, denen John Wolf Brennan am Klavier lustvoll nachgeht und mit witzvollen Melodiebögen an Tscho Theissing (Violine und Gesang) weitergibt.
Im krönenden Abschlusskonzert agierte dann mit Rudresh Mahanthappa einer der exzellentesten Saxofonisten, ein aufsteigender Stern, der schon längst ziemlich hoch am Himmel steht. Was der mit seinem Trio „Mauger“ an Energie erzeugt, setzt ganze Säle unter Spannung. In endlos scheinenden Bögen schraubt er sich durch die Höhen und Tiefen, geradezu sinfonisch breit sind die Gedankengebäude, die dieser wunderbar eigenwilligen Form der Moderne zugrunde liegen. Den Namen des in den USA lebenden Sohn indischer Eltern sollte, wer ihn noch nicht kennt, sich unbedingt merken. Kongenial ist Mahanthappa vom Bassisten Mark Dresser und dem Drummer Gerry Hemingway begleitet, zwei Größen sowohl im selbstversunken jenseitigen Spiel als auch im Ensemble, wo sie sich über Ganzstunden in atemlos scheinender Konzentration die blauen Noten zuwerfen. Allein diese Sternstunde darf völlig zu Recht als einziges „Spannungsfeld“ gelten, und alles in allem ist der „Jazzwelten“-Jahrgang 2009 ein gut bestellter gewesen.