Ein Mann, eine Frau stehen auf der kahlen Bühne der Alten Feuerwache in Saarbrücken, dahinter sitzen vier Musiker, doch die Musik schweigt. Schweigend stellt der Mann der Frau einen von 15 weißen Tellern auf den Kopf, sie balanciert ihn eine Strecke, kehrt um und wieder zurück. Da lädt er ihr drei weitere Teller auf. Sie schafft zwar die Kehre, doch bei der Rückkehr fällt das Porzellan herunter, bis es zersplittert. Dem Mann fällt nichts besseres ein, als diesen Akt mehrmals zu wiederholen – mit dem selben Ergebnis. Schließlich liegt die Bühne voller Scherben.
„Mehr desselben“, das war eines der unfehlbaren Rezepte aus Paul Watzlawicks berühmter „Anleitung zum Unglücklichsein“. „Mehr desselben“, das prägt in weiten Teilen auch den Umgang der Menschheit mit einer so gefährlichen Technik wie der Atomkraft. „Himmel – Hölle – Ciel –Enfer“ heißt die jüngste Produktion des Netzwerks Musik Saar, die in Zusammenarbeit mit dem Saarländischen Staatstheater und dem Théâtre National du Luxembourg entstanden ist. Den „Sieben szenischen Aktionen mit Musik“ liegt der Gedichtszyklus „Cattenom“ des Schriftstellers, Liedermachers und Regisseurs Alfred Gulden zugrunde. Cattenom, das ist ein französisches Atomkraftwerk im Dreiländereck zwischen Deutschland, Frankreich und Luxemburg, gleich hinter der Grenze, das siebtgrößte der Welt.
Was wäre, wenn dort die Katastrophe passiert? Im moselfränkischem Dialekt des Dreiländerecks, der in Luxemburg als „Lëtzebuergesch“ Amtssprache ist, versucht Gulden, in 14 Gedichten eine Situation in Worte zu fassen, die vor allem von Fassungslosigkeit bestimmt ist. Bildhafte Assoziationen mischen sich mit Bruchstücken von Gebeten, Erinnerungsfetzen, Kinderreimen. Für „Himmel – Hölle – Ciel – Enfer“ – hat der Autor eine hochdeutsche Version hinzugefügt und eine französische Übersetzung an-fertigen lassen. So erklingen die Texte dreisprachig, umrahmt, überlagert und getragen von der Musik des Undertone Projects. Die hat der Komponist und Posaunist Christof Thewes für das von ihm selbst und dem Gitarristen Martin Schmidt gegründete Jazzquartett geschrieben, zu dessen Stammbesetzung noch Hartmut Oßwald (Saxofon u. Bassklarinette) und Dirk Peter Kölsch (Percussion) gehören. An diesem Abend treten die Mezzosopranistin Angela Lösch und der Perkussionist Daniel Prätzlich hinzu.
Die Inszenierung selbst ist spartanisch gehalten. Sie arbeitet mit Mitteln des „Armen Theaters“ – weniger im Sinne des polnischen Regisseurs Jerzy Grotowski, sondern eher nach Art italienischen „Arte Povera“, die um 1970 herum von Bildenden Künstlern in Italien entwickelt wurde. Gulden und Lösch zeichnen etwa mit Kreide auf der Bühne. Was nach Kinderzeichnung aussieht und zum Blinde-Kuh-Spiel animiert, erinnert im nächsten Moment an die Umrisszeichnung bei einer polizeilichen Unfallaufnahme.
Doch zunächst beginnt die Aufführung vor der Saaltür mit Musik, laut, kräftig, mit alarmistischen Unterton, und die Musiker ziehen in den Saal fast wie ein Spielmannszug. Gulden liest seine Texte teils schlicht vor, teils rezitiert er sie ausdrucksvoll, manchmal sogar im Duett mit einem der Instrumentalisten, und die Mezzsopranistin singt sie in eigenwilligen, expressiven, an Neuer Musik geschulten, aber doch eher ruhigen Linien. Manchmal rollt die Jazzband wie eine Walze über die Worte, dann werden diese an anderer Stelle wiederholt. Oft wird die Musik verhalten und nachdenklich, bisweilen liedhaft und choralartig, danach wieder streng und unerbittlich zupackend. Zweimal greift der Gitarrist zur Mandoline, Rufterzen klingen an, und die Klänge berühren die kindliche Sphäre der Texte und Aktionen. Ein Verkündigungs- oder Betroffenheitspathos hingegen wird vermieden, und das trifft sich mit der nüchternen Wachheit des Dialekts, die Guldens Poesie prägt. Schweigend kehrt und sammelt Gulden zum Ende hin die Scherben wieder auf, die Schlagzeuger schnallen sich die Trommel vor den Bauch, Sängerinnen und Jazzquartett ziehen hinaus, übrig bleibt der Rezitator mit traurig verlorenen Klängen der E-Gitarre. Ein eindrucksvoller Abend.