Während die Sächsische Staatskapelle Anfang Februar im Norden Europas auf einer Gastspielreise unterwegs ist – und dort von ihrem Chef Fabio Luisi, der diese Tour aus Krankheitsgründen absagen und in die Hände von Neeme Järvi geben musste, überraschend ausgerichtet bekommt, dass er nicht länger ihr Chef sein will –, ging im heimischen Dresden ein Projekt der Kapelle über gleich drei verschiedene Bühnen, das höchste Aufmerksamkeit verdient und auch erfahren hat: Nach dem 2008 in Dresden und Zgorzelec veranstalteten „Chung-Messiaen-Projekt“ stand diesmal eine lebende Einzelperson im Rampenlicht.
Und doch war das Projekt sowohl einem herausragenden Pianisten als auch einem Musiktheoretiker, einem Vortragskünstler und Lyriker sowie einem sachkundigen Gesprächspartner gewidmet. Alfred Brendel ist dies alles in Personalunion. Allerdings, die Musikwelt nahm es Ende 2008 mit Bedauern zur Kenntnis, setzt sich der 1931 im nördlichen Mähren geborene Ausnahmekünstler nicht mehr öffentlich ans Klavier. Umso bedeutsamer, dass Brendel das ihn ehrende und zugleich von ihm profitierende Dresden-Projekt auch mit pianistischen Einsprengseln bereicherte.
Den Auftakt des mehrtätigen Gastspiels gab ein Exkurs zum Thema „Licht- und Schattenseiten der Interpretation“ im Konzertsaal der Musikhochschule Carl Maria von Weber. Bis auf den allerletzten Platz besetzt, wurde ein enormes Interesse an Brendels Ausführungen offenkund. Als Dank konterte der seit langem in London lebende Weltbürger denn auch nicht mit einer pur theoretischen Abhandlung zu Interpretationsfragen, sondern bot noch einmal rar gewordene Beweise für seine immense Fingerfertigkeit.
Zwischen Klangbeispielen aus der Konserve – neben Händel vor allem von Lieblingskomponisten wie Beethoven und Mozart – spielte der große Meister immer mal wieder selbst einige Takte, Themen und Melodien am Steinway an, um auf verbreitete Unarten der musikalischen Ausübung zu verweisen. Alfred Brendel präsentierte da nicht weniger als den Bilderbogen (s)eines an Erfahrungsschätzen so überaus reichen Interpretenlebens. Ob er ihn auch nur annähernd komplett entblätterte, wird sein Geheimnis bleiben. Freilich verriet er, sich ganz bewusst auf das „Minenfeld musikalischer Dogmen“ zu wagen, indem er köstliche Proben dafür lieferte, wie Partituren verstanden und eben auch missverstanden werden können. In ihnen stecke schon eine Menge an Musik, Interpreten hätten allerdings die Aufgabe, diese Kompositionen „wachzuküssen“. Das Ergebnis verrate dann, wer die Noten verstanden und genau gelesen hat. Sympathisch benannte er auch eigene Jugendsünden und teilte deftige Kollegenschelte aus, ohne jedoch brüskierend Namen zu nennen. Trotz deutlich gemachter Fehlinterpretationen wolle Brendel unterm Strich ein „Plädoyer für die Vielfalt“ abgeben, es dürfe halt keine Beliebigkeit daraus werden. Im Auditorium wurde dem weisen Mann, der auch Beispiele seines Heitersinns bot, mit angehaltenem Atem gelauscht. Dieser Brendel-Vortrag hat unbedingt das Zeug zu einem Hörbuch!
Als Autor anderer Bücher ist der Meister längst bekannt und wurde dafür gefeiert. Das wohl vergnüglichste ist der 2003 im Hanser Verlag erschienene Gedichtband „Spiegelbild und schwarzer Spuk“, aus dem Brendel Tags drauf in Dresdens Semperoper las. Darin hat er Engel und Teufel, Künstler und Konzertbesucher bedichtet, die Ideen von Buddhas, Göttern und Geistern auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Brillant zu dieser aphoristisch klug verknappten Dichtkunst passte die von Annika Thiel und Kay Mitzscherling (Violinen), Holger Grohs (Viola) und Adrian Brendel (Violoncello) vorgetragene Musikauswahl mit Kompositionen von Beethoven, Kurtág und Haydn.
Diese Musiker krönten, gemeinsam mit der Pianistin Masumi Sakagami und Robert Schumanns Klavierquintett Es-Dur op. 44, auch den dritten Abend des „Alfred-Brendel-Projekts“, der zum wichtigsten Sponsoring-Partner der Staatskapelle in die Gläserne Manufaktur von Volkswagen führte. Dort waren Brendel Senior und Junior zunächst Gäste in einem Podiumsgespräch mit dem FAZ-Architekturexperten Dieter Bartetzko zum Thema „Architektur der Klänge“, das der Frankfurter Musikjournalist Wolfgang Sandner mit kluger Umsicht moderierte. Ein weltmännisches Parlieren über die Flüchtigkeit von Musik im Gegensatz zur scheinbar so manifesten Architektur, über die Ausdeutbarkeit musikalischer Strukturen in der Architektur von der Antike bis in die Gegenwart, über die streng auskomponierten Bauweisen in der Musik zumindest bis Mozart. Der denkbaren Falle, bei solcher Thematik nur über Erfahrungen mit guten und schlechten Konzertsälen zu reden, wurde glücklich entgangen. Statt dessen erhellten die Gesprächspartner Zusammenhänge von Bauten und Klängen; bedauert wurde, dass heutige Architekten die einst als selbstverständlich geltenden Grundlagen der Musik nur mehr selten verstünden geschweige denn beherzigten.
Alfred Brendel, den Ort des Geschehens im Blick, schlug abschließend vor, nach „Musik und Architektur“ eine nächste Runde mit „Musik und Karosserie“ zu übertiteln. Ein heller Kopf, dem dieses Projekt in Dresden völlig zu Recht und mit angemessener Würde gewidmet war.