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Keith Jarrett 1976. Foto: Hans Kumpf
Keith Jarrett 1976. Foto: Hans Kumpf
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Subtile Synkopen und swingende Synapsen – Keith Jarrett wird 75

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Keith Jarrett, das ist die Kunst der Improvisation, zugleich aber auch die Improvisation der Kunst. Der Pianist verkörpert die Freiheit des Spiels, das Spiel mit der Freiheit, er ist der Lyriker unter den Jazzern, findet unser Autor Michael Ernst.

Dass er just am 8. Mai 1945 zur Welt kam, jenem Tag also, an dem die Welt den bis dahin schrecklichsten aller Kriege beendet hat und von einem großen Übel befreit worden ist, könnte man ihm nachträglich als Omen andichten. Keith Jarrett hat die Musik befreit, ihr neuen Raum und neue Wege gegeben, ihr neue Lichter aufgesetzt und sie mit Farben versehen, die wohl schon immer tief in ihr drin gesteckt haben, von ihm aber zum Leuchten gebracht wurden.

Das Hand-Werk dafür hat er bereits mit drei Jahren zu erlernen begonnen. Vier Jahre später gab er sein erstes Konzert. Wie viele mögen es seitdem geworden sein? Von Pennsylvania aus eroberte er die Welt, und zwar nicht nur die des Jazz. Als Barpianist soll er angefangen haben, hat mit Art Blakey und Charles Lloyd gespielt und wenige Jahre später mit Charlie Haden und Paul Motian ein famoses, rasch legendär gewordenes Trio gegründet. Dass ihn ausgerechnet ein Ausflug zu Miles Davis und dem Jazzrock einem breiteren Publikum bekannt machte, spricht für die Vielseitigkeit dieses Künstlers.

Sternstunden im Kollektiv

Auf eine beispiellose Solokarriere, die von eigenen Kompositionen und Improvisationen geprägt war und Jarrett in alle Welt geführt hat, folgten immer mal wieder kollektive Sternstunden, etwa im Trio mit Jack DeJohnette und Gary Peacock sowie im Zusammenspiel mit Jan Garbarek. Doch oft genügten ihm seine zehn Finger und die schier endlose Kombinationsfähigkeit an den Tasten. Wieder und wieder hat Keith Jarrett am Klavier überrascht, Erwartungen gesprengt und das Publikum in den Bann seiner Klangwelten gezogen.

Als 1978 nach einer Konzertserie vor insgesamt etwa 40.000 Menschen in Japan daraus ein Konvolut von zehn Langspielplatten entstand („Sun Bear Concerts“), galt das als bemerkenswertes Wagnis, sowohl künstlerisch als auch ökonomisch, zumal im Jazz. Doch die Zusammenarbeit mit dem Musikproduzenten Manfred Eicher (ECM) hatte schon drei Jahre zuvor mit dem exorbitanten Erfolg von „The Köln Concert“ sämtliche bis dahin denkbaren Grenzen eingerissen und führte im Laufe der Jahrzehnte zu schier überbordenden Schallplatten- und CD-Regalen.

Allein Jarretts Plattentitel sind musikalische Weltreiche. Einige sind nach Städten benannt: „Paris Concert“, „Vienna Concert“, „Paris / London – Testament“, „Rio“, jüngst „Munich 2016“, andere nach den Spielstätten: „At The Blue Note“, „La Scala“, „The Carnegie Hall Concert“, „La Fenice“ – um hier nur eine allerkleinste Auswahl zu nennen.

Der Zauber, der von der Musik Keith Jarretts ausgeht, verbindet Raffinesse und höchste Virtuosität mit der inneren Suche nach Ruhe. Selbstbetrachtungen sind es, die sprachlos machen (auch wenn der Pianist mitunter auch vokal zu hören ist, meist nonverbal, in raren Aufnahmen singt er aber auch mit Worten). Dieser Zauber fasziniert sowohl bei all den Solo-Arbeiten als auch in den diversen Ensembles. Das sind in Musik gefasste Korrespondenzen eines Ausnahmekünstlers, der ganz für seine Musik lebt. Und ihr die eigene Gesundheit als Opfer bringt.

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre litt Keith Jarrett am chronischen Erschöpfungssyndrom und musste danach, wie er sagte, das Klavierspiel wieder komplett neu erlernen. Wer ihn danach im Konzert erleben durfte, mag das kaum glauben. Weniger wegen des vom Publikum eingeforderten Respekts und dem unbedingten Fotoverbot als aufgrund des Beinahe-Verschmelzens von Künstler und Instrument. Beim Spielen entwickelt er eine ganz eigene Choreografie, mal steht er am Flügel, macht geradezu Kniebeugen beim Spielen, mal sitzt er und steckt den Kopf dicht auf die Tastatur.

Die Stille im Saal hört man mit

Nach seiner Genesung beschenkte er erst seine Frau und dann seine gesamte Fangemeinde mit dem Album „The Melody At Night, With You“. Intime Preziosen, die sein umfangreiches Spektrum einmal mehr erweitert haben. Hat diese Bereitschaft zum Wagnis vielleicht mit Jarretts Liebe zum Skifahren zu tun? Dieses Austesten, an Grenzen zu gehen, sowohl körperlich als auch geistig? So in etwa scheint auch seine Auseinandersetzung mit den schwarzen und weißen Tasten mitunter ein Ringen zu sein, weniger ein partnerschaftliches Zusammenspiel – er „bedient“ das Klavier schließlich nicht – denn ein Kampf, um am Ende alles zu geben und ans Unerreichbare gelangen zu können.

Die Improvisation habe er der klassischen Musik zu verdanken, sagte er einmal. Bach war für ihn der größte Improvisator. Die Strenge des Kontrapunkts nicht als Gegensatz zur Ungebundenheit, sondern allenfalls als deren zweite Seite. Dass Keith Jarrett auch ein begnadeter Interpret von Bach und Händel ist, von Mozart bis Schostakowitsch und Arvo Pärt, muss angesichts dieser Vielfalt nicht verblüffen. Auch wenn das Resultat beim Zuhören dann doch immer wieder erstaunt. Denn die Stille im Saal hörst du mit.

„Kunstwerke sind nie Regelwerke, immer Ausnahmen“, ist in Wolfgang Sandners unbedingt empfehlenswerter Biografie Keith Jarretts zu lesen. Der Künstler Keith Jarrett hat ein gigantisches Ausnahmewerk geschaffen. Was auch immer er aus den Tasten herausholt, es ist wie bei Michelangelo, der mal gemeint haben soll, sein David sei immer schon dagewesen. Er habe nur den überflüssigen Marmor um ihn herum entfernen müssen. Bei Keith Jarrett gibt es keinen überflüssigen Ton.


Eine Spotify-Playlist mit Aufnahmen des frühen Keith Jarrett (kreiert von Martin Hufner)

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